Gesund zu leben liegt im Trend. Supermärkte werben mit «clean eating», Apps zählen unsere Schritte, Influencer*innen geben Tipps zu Biohacking und Longevity. Doch der Boom des Gesundheitsbewusstseins hat eine Kehrseite: Wer nicht mithält, fühlt sich schnell schuldig oder unzulänglich. Studien zeigen, dass der Druck zur Selbstoptimierung nicht nur motiviert, sondern auch krank machen kann – und die mentale Gesundheit dabei leicht in den Hintergrund rückt.
G rundsätzlich ist das Streben nach Gesundheit nichts Schlechtes – im Gegenteil: Zahlreiche Studien belegen, dass Menschen, die sich regelmässig bewegen, sich ausgewogen ernähren und auf sich achten seltener an psychischen Erkrankungen leiden (z. B. Rebar et al., 2015; Zulyniak et al., 2020). Körperliche Aktivität kann Depressionen lindern; ein bewusster Lebensstil stärkt oft auch das Selbstwertgefühl und das Gefühl von Kontrolle über das eigene Leben. Doch wo liegt die Grenze zwischen gesunder Selbstfürsorge und überfordernder Selbstoptimierung? Wann wird aus dem Wunsch, gesund zu bleiben, ein Zwang, perfekt sein zu müssen?

Langlebigkeit als ultimatives Ziel
Das weltweit zunehmende Interesse an Langlebigkeit (engl. longevity) wird durch ihre weitreichenden Vorteile angetrieben – es geht dabei nicht nur um ein längeres Leben, sondern auch um mehr Gesundheit und ganzheitliches Wohlbefinden. Studien legen nahe, dass Menschen mit hoher Lebenszufriedenheit, Optimismus und positiver Grundeinstellung signifikant länger leben – selbst wenn statistisch für genetische und sozioökonomische Faktoren kontrolliert wurde. Dies unter anderem, weil positive Emotionen etwa das Immunsystem stärken, Stresskanäle modulieren und zu gesundheitsförderndem Verhalten motivieren können (Diener & Chan, 2011; Lawrence et al., 2015).
Darüber hinaus wirken sich bestimmte Lebensstilfaktoren wie etwa eine ausgewogene Ernährung und regelmässige körperliche Bewegung nachweislich positiv auf die Lebensspanne aus (Pignolo, 2019). So wird beispielsweise eine dauerhafte Reduktion der täglich konsumierten Kalorien sowie ein gesundes Essverhalten mit einem geringeren Auftreten altersbedingter Krankheiten in Verbindung gebracht (Chellappa et al., 2019). Zudem fördert dieses entsprechende Essverhalten nicht nur ein längeres, sondern auch ein qualitativ besseres Leben, etwa durch einen verbesserten Stoffwechsel oder effizienteren Elektrolythaushalt (Chellappa et al., 2019; Pignolo, 2019).
Blue Zones
Die Blue Zones bezeichnen Regionen der Welt, in denen Menschen aussergewöhnlich alt werden, häufig über 90 oder sogar 100 Jahre alt, und dabei vergleichsweise gesund und fit bleiben. Zu diesen Zonen zählen unter anderem Okinawa, Sardinien, Nicoya, Ikaria und die Adventistengemeinde in Loma Linda. Studien zeigen, dass die Langlebigkeit dort weniger auf medizinische Versorgung, sondern vor allem auf Lebensstilfaktoren zurückzuführen ist: pflanzenbetonte Ernährung, tägliche Bewegung, enge soziale Bindungen und ein klarer Lebenssinn («Ikigai» oder «Plan de vida») (Buettner & Skemp, 2016; Poulain et al., 2004). Auch Stressvermeidung, generationenübergreifendes Zusammenleben und gesellschaftliche Anerkennung im Alter spielen eine zentrale Rolle. Die Blue Zones gelten daher als anschauliche Beispiele für die Synergie von gesunder Lebensführung, psychischem Wohlbefinden und sozialer Eingebundenheit (Buettner & Skemp, 2016).
Allerdings sind die Blue Zones seit Kurzem auch Gegenstand kritischer Diskussion. Der Forscher Saul Newman etwa weist darauf hin, dass die Altersangaben in einigen dieser Regionen unzuverlässig oder schlecht dokumentiert sein könnten, dies insbesondere aufgrund fehlender oder inkonsistenter Geburtsregister (Newman, 2019). Aus wissenschaftlicher Sicht seien viele dieser Aussagen daher nur mit Vorsicht zu interpretieren. Die Blue Zones bleiben somit ein inspirierendes, wenn auch umstrittenes Phänomen.
Auch genetische Veranlagungen spielen eine Rolle für die Longevity. Studien konnten spezifische Gene identifizieren, die mit einer höheren Lebenserwartung assoziiert sind – insbesondere solche, die an der Regulation des Stoffwechsels beteiligt sind (Passtoors et al., 2013). Dennoch zeigt sich, dass vor allem das Zusammenspiel zwischen genetischer Disposition und Lebensstil entscheidend ist. Gemeinschaften mit besonders hoher Lebenserwartung – wie die sogenannten Blue Zones – veranschaulichen eindrucksvoll, wie soziale Verbundenheit und gesunde Alltagsgewohnheiten sich gegenseitig verstärken und sowohl Lebensdauer als auch Lebensqualität fördern (Pignolo, 2019). Nicht zuletzt spielen auch psychische Gesundheit und stabile soziale Beziehungen eine entscheidende Rolle: Sie wirken als Puffer gegen Stress und fördern die psychische Widerstandskraft, wodurch sich die negativen Auswirkungen des Alterns abmildern lassen (Buettner & Skemp, 2016; Poulain et al., 2004). Angesichts der engen Beziehung von gesunder Lebensführung, psychischem Wohlbefinden und sozialer Eingebundenheit erscheint das wachsende Streben nach Longevity nicht nur als verständlicher Ausdruck persönlicher Lebensziele, sondern auch in gewissem Masse als Widerspiegelung eines gesellschaftlichen Wandels: hin zu einem Gesundheitsverständnis, welches nicht allein auf das Vermeiden von Krankheit zielt, sondern auf ein möglichst langes Leben in körperlicher, psychischer und sozialer Ausgeglichenheit.
Die Schattenseiten des Langlebigkeitsstrebens
Das Streben nach Longevity gilt vielfach als wünschenswert – doch es kann auch erhebliche psychische Nebenwirkungen bergen. Menschen, die sich übermässig um ein langes und gesundes Leben bemühen, erleben oft erhöhten Stress und Druck, stets gesunde Entscheidungen treffen zu müssen (Ewart et al., 2014). Dies kann zu erhöhtem Cortisolspiegel und negativen emotionalen Zuständen führen; beides Risikofaktoren für Bluthochdruck und anderen Erkrankungen (Ewart et al., 2017). Besonders kritisch wird es, wenn das Selbstwertgefühl eng mit Gesundheit und Lebenserwartung verknüpft ist: Perfektionistische Tendenzen steigern dann das Risiko für Gefühle von Versagen und Unzulänglichkeit (Madigan, 2016). Zudem konnten Scott und Kolleg*innen zeigen, dass der psychische Druck, ein möglichst «ideales» langes Leben führen zu müssen, die Lebensfreude im Hier und Jetzt merklich beeinträchtigen kann (Scott et al., 2021).
Ferner kann das aus dem Wunsch nach Longevity resultierende ständige Messen und Überwachen des eigenen Körpers – etwa durch Fitness-Apps, Gadgets oder Diätpläne – obsessive Verhaltensmuster fördern. Diese begünstigen psychische Belastungen wie Angst und Depressionen (Scott et al., 2021). Paradoxerweise kann genau dieses Verhalten körperlich kontraproduktiv sein: Schlafmangel, erhöhter Stress und sozialer Rückzug untergraben die positiven Effekte eines gesunden Lebensstils (Hu et al., 2022). Verstärkt wird diese Problematik zusätzlich durch gewisse gesellschaftliche Narrative, welche Longevity mit Erfolg, Disziplin und moralischer Überlegenheit gleichsetzen. Wer diesen Idealen nicht entspreche, fühle sich schnell als Versager*in – oft mit negativem Einfluss auf das Selbstbild und die Selbstwahrnehmung (Ming, 2014). Der soziale Vergleich mit «erfolgreichen» Gesundheitsvorbildern kann Konkurrenz statt Gemeinschaft fördern und das Gefühl der Entfremdung vertiefen (Wang et al., 2016).

Nicht zuletzt kann der starre Fokus auf ein möglichst langes und gesundes Leben auch bedeuten, bewusst auf schöne Momente oder Aktivitäten zu verzichten – etwa auf gesellige Treffen oder spontane Freuden, die nicht ins eigene Gesundheitsregime passen (Govindaraju et al., 2015). Auf Dauer kann dieser Rückzug in einen sehr strikten «Gesundheitslebensstil» eine soziale Isolation begünstigen – ein weiterer Risikofaktor für psychische Erkrankungen (Byun et al., 2012). Dadurch werde in gewissen Fällen Lebensqualität zugunsten von Lebensdauer geopfert (Scott et al., 2021).
Neuere Forschung zeigt jedoch: Wer den Moment annimmt, ohne ständig auf Lebensverlängerung hinzuarbeiten, lebt oft zufriedener und erfüllter. Entscheidend ist ein gesunder Mittelweg: Ein Leben, das sowohl auf körperliches als auch auf seelisches Wohlbefinden achtet, mit einem Fokus auf Qualität, nicht nur auf Quantität (Pennell et al., 2024).
«It is perhaps time to add interventions to improve subjective well-being to the list of public health measures, and alert policy makers to the relevance of subjective well-being for health and longevity.»
Wie sich die negativen psychischen Effekte eines übermässigen und damit ungesunden Langlebigkeitsstrebens abmildern lassen, ist derzeit Gegenstand diverser neuerer Forschungsprojekte. Insbesondere das Fördern psychischen Wohlbefindens zeichnet sich als zentraler Schutzfaktor ab: Es wirkt sich positiv auf die geistige wie körperliche Gesundheit aus und kann so die Lebensdauer verlängern – ohne den belastenden Druck, ständig «optimal» leben zu müssen (Jantapo & Kusoom, 2021). Eine unterstützende Umgebung mit sinnstiftenden sozialen Beziehungen hilft dabei, Perfektionismus und Ängste zu reduzieren, die oft mit dem Wunsch nach Longevity einhergehen (Jiang et al., 2021). Wer die Lebensqualität über die blosse Lebensverlängerung stellt, erlebt häufiger Zufriedenheit und Erfüllung. Auch individuelle Bewältigungsstrategien sind wichtig: Sie helfen dabei, mit Stress umzugehen, sei es im Beruf oder im Kontext des gesundheitsorientierten Lebensstils. Eine sinnvolle Struktur im Alltag und bewusster Umgang mit Belastungen können die mentale Gesundheit stabilisieren (Jiang et al., 2021). Studien betonen zudem die Bedeutung erfüllender Hobbys und Aktivitäten. Sie wirken als Schutzschild gegen den Druck, ständig gesundheitsoptimierend leben zu müssen (Jiang et al., 2021). So entsteht eine Balance, die Freude am Hier und Jetzt ermöglicht – ohne eine gesunde Lebensführung zu vernachlässigen.
Zentrale Bedeutung kommt in diesem Kontext auch der emotionalen Unterstützung aus dem sozialen Umfeld zu. Enge familiäre Bindungen und stabile soziale Netzwerke tragen erwiesenermassen dazu bei, Stress abzupuffern und das psychische Wohlbefinden zu stärken (Aslam et al., 2021; Kerr et al., 2021). Statt in sozialer Isolation restriktive Gesundheitsideale zu verfolgen, empfiehlt es sich, auf Gemeinschaft zu setzen. Dies fördert mentale Resilienz und Lebensfreude. Nicht zuletzt wurde im Zuge der COVID-19-Pandemie deutlich, wie hilfreich Achtsamkeit und Selbstfürsorge sein können. Wer emotionale Selbstregulation trainiert, kann besser mit Unsicherheit und Zukunftssorgen umgehen (Wang et al., 2020).
Langfristig zeigt sich: Ein ausbalanciertes Gesundheitsverständnis, das sowohl körperliches als auch psychisches Wohlbefinden berücksichtigt, ist der nachhaltigste Weg zu einem langen und erfüllten Leben. Lebensstilfaktoren wie Bewegung, gesunde Ernährung und soziale Eingebundenheit verbessern nicht nur die Gesundheit, sondern stärken auch die psychische Widerstandskraft (Mrklas et al., 2020). Wer den Fokus auf Sinn, Freude und soziale Verbundenheit legt, findet einen gesunden Mittelweg – und lebt somit nicht nur länger, sondern auch bewusster und zufriedener.