Hirnschädigungen tragen oft je nach Ausmass, Lokalisation und Art des Ereignisses kurz- oder langfristig kognitive Einbusse mit sich. In selteneren Fällen können sie auch signifikante Persönlichkeitsveränderungen bewirken.
N icht nur Psychologie-Student*innen ist der Name Phineas Gage ein Begriff. Den Berichten seiner Mitarbeiter zufolge konnte sich der im 19. Jahrhundert lebende Herr, nachdem sich aufgrund eines Arbeitsunfalls, bei dem eine Stange durch die Wange hindurch seinen Schädel durchbohrte, nach ein paar Minuten problemlos mit ihnen verständigen, und lief einige Momente später sogar mit etwas Hilfe eine Treppe hinauf (Harlow, 1849). Auch laut einer späteren ärztlichen Untersuchung soll der Vorfall kaum signifikante neurologische Defizite nach sich gezogen haben, ein Zeugnis für die faszinierende Plastizität des menschlichen Gehirns (Harlow, 1868). Einzig in der Persönlichkeit soll sich Gage laut Aussage seines behandelnden Arztes verändert haben: So sei er unter anderem plötzlich respektlos, launisch und kindlich geworden (Harlow, 1993).
Obwohl dieser Befund und dessen Relevanz für unser Verständnis über die Beziehung zwischen Präfrontalkortex und Persönlichkeit heute aufgrund mangelnder Objektivität und Empirie bei der Fallbehandlung kritisch betrachtet wird, ist das Auftreten von Persönlichkeits- und Verhaltensänderungen aufgrund Hirnschädigungen durchaus ein standhafter Teil unseres Repertoires von psychischen Störungen und Syndromen (Macmillan, 2008).
«Nach einem Schlaganfall kann es zu neuen Verhaltensweisen kommen, wie z. B. einer Enthemmung. Das bedeutet, dass man sich unangemessen oder auch kindisch verhält.»
Die Rolle von Ätiologie, Lokalisation und Typus
Deutliche Veränderungen prämorbider Persönlichkeitsmuster und Verhaltensweisen wurden als Folge oder Begleiterscheinung diverser neurologischer Erkrankungen, wie beispielsweise Schlaganfällen, Enzephalitis und traumatischen Hirnverletzungen dokumentiert, und sind sowohl in der zehnten als auch in der elften Version der International Classification of Disease (ICD) als Diagnose anzutreffen (World Health Organization, 2022).
Typischerweise zeigen sich die disruptiven neuen Muster in den Bereichen der Impulskontrolle, der emotionalen Expression und Regulation sowie in der Äusserung von Bedürfnissen (Dilling et al., 2015). Auch das Sexualverhalten und die Sprachverwendung können qualitative und quantitative Veränderungen nach sich ziehen (Dilling et al., 2015). Betroffene Personen mögen im Vergleich zu ihrer Art vor dem neurologischen Ereignis deutlich apathischer und interesselos wirken, und/oder durch paranoide Vorstellungen, Enthemmung und Misstrauen auffallen (World Health Organization, 2022).
Diese Veränderungen können Abbildungen typischer Muster der verursachenden Erkrankung, Funktionsstörung oder Hirnschädigung und deren Lokalisation widerspiegeln (Dilling et al., 2015; Lang et al., 2015). In der ICD-10 werden beispielsweise spezifische Syndrome nach einer Enzephalitis (F07.1 postenzephalitisches Syndrom) und einem schweren Schädelhirntrauma (F07.2 organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma) beschrieben. Erstes beinhaltet kein Set spezifischer Persönlichkeits- und Verhaltensveränderungen, zeichnet sich aber durch dessen Reversibilität aus; jene ist in der organischen Persönlichkeitsstörung (F07) nicht zwingend gegeben (Dilling et al., 2015). Das Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma kann sich neben neuropsychologischen Auffälligkeiten (Konzentrations- und Gedächtnisschwierigkeiten, …) und körperlichen Symptomen (Schwindel, Erschöpfung, …) in einer erhöhten Reizbarkeit und einer verminderten (emotionalen) Belastbarkeit äussern (Dilling et al., 2015). Bezüglich der Lokalisation werden in der ICD-10 Begriffe wie «Frontalhirnsyndrom» (bei der organischen Persönlichkeitsstörung, F07.0) und «rechts-hemisphärische organische affektive Störung» (sonstige, F07.8) verwendet (Dilling et al., 2015).
Psychische Reaktion oder mehr?
Symptome wie eine erhöhte Reizbarkeit, maladaptive Emotionsregulation oder Interesselosigkeit können auch als emotionale Reaktion auf das neurologische Ereignis und dessen Konsequenzen verstanden werden. Nicht selten werden Individuen nach einer Hirnschädigung mit körperlichen und kognitiven Einschränkungen konfrontiert; alltagsrelevante oder persönlich wichtige Tätigkeiten können nicht mehr wie gewohnt oder nur mit grosser Mühe ausgeführt werden, die Selbstständigkeit und -bestimmtheit ist schlagartig vermindert (Gandy et al., 2020). Die Trennung von einzig «organisch» bedingten Mechanismen und psychischer Antwort auf die Krankheit ist folglich nicht immer einfach.
Massgebend für die Diagnose der durch eine neurologische Erkrankung bedingten Persönlichkeitsstörung (in der ICD-10) oder -syndroms (in der ICD-11) ist, dass die neuen Persönlichkeitsmuster durch die Anamnese, Laborbefunde, oder körperlichen Untersuchungen direkt auf die Hirnschädigung attribuiert werden können (World Health Organisation, 2022). Dies bedeutet unter anderem, dass sich die Persönlichkeitsveränderung kausal zum Anfang und der Remission der Erkrankung verhält, und dass es wissenschaftliche Befunde gibt, dass die verursachende Erkrankung solche Wesensänderungen bewirken kann (World Health Organisation, 2022). Auszuschliessen ist, dass die Symptome Ausdruck einer medikamentösen Behandlung (inklusive als Entzugserscheinungen davon), eine vorbestehende Persönlichkeits- oder anderer psychischen Störung, eines Delirs oder einer Demenz sind (World Health Organisation, 2022). Äussern sich die Verhaltens- oder Persönlichkeitsveränderungen nur in den Bereichen der Impulsivität und des Suchtverhaltens, wird in der ICD-11 alternativ die Diagnose «Sekundäres Impulskontrollsyndrom» vergeben (World Health Organisation, 2022).
Klassifikationsvergleich: ICD-10 und ICD-11
In der ICD-10, 1990–2022 (Dilling et al., 2015) im Kapitel «F07: Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns»:
- F07.0 organische Persönlichkeitsstörung
- F07.1 postenzephalitisches Syndrom
- F07.2 organisches Psychosyndrom nach Schädel-hirntrauma
- F07.8 sonstige organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
- F07.9 nicht näher bezeichnete organische Persön-lichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
In der ICD-11, ab 2022 (World Health Organization, 2022) im Kapitel «06: Psychische Störungen, Verhaltensstörungen oder neuronale Entwicklungsstörun-gen: Sekundäre psychische oder Verhaltenssyndrome bei anderenorts klassifizierten Störungen oder Er-krankungen»:
- 6E68: Sekundäre Persönlichkeitsänderung
Störungsdefinition und -klassifikation über die Jahre
Mit dem sich kontinuierlich weiterentwickelndem Verständnis von Krankheit und Gesundheit verändert sich auch die Klassifikation der Störungsbilder. In der ICD-10, welche im Jahr 1990 von der WHO verabschiedet wurde und bis zum Jahr 2022 offiziell, und heute im klinischen Bereich noch immer verwendet wird, wurden solche Wesensveränderungen im Kapitel der organischen psychischen Störungen als «Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns (F07)» beschrieben. Dabei wird die Symptomatik anhand der Codes F07.0-F07.9 (siehe «Klassifikationsvergleich: ICD-10 und ICD-11») nach auslösender Störung oder Krankheit spezifiziert. In der ICD-11, welche seit zwei Jahren offiziell verwendet werden kann, wird dasselbe Phänomen nun im Subkapitel Sekundäre psychische oder Verhaltenssyndrome bei anderenorts klassifizierten Störungen oder Erkrankungen als «Sekundäre Persönlichkeitsänderung» (6E68) bezeichnet.
Zwischen den zwei ICD-Versionen finden sich einige Änderungen bezüglich der Definition. Grundsätzlich ist die Beschreibung in der ICD-11 unspezifischer: Es findet sich im Vergleich zur ICD-10 keine Unterscheidung der Symptome nach Art der Hirnschädigung oder Lokalisation. Einige Symptome, wie Veränderungen betreffend dem Sexualverhalten oder der Sprache, werden nicht erwähnt. Statt Persönlichkeitsstörung wird von einer Persönlichkeitsänderung gesprochen, und die Beschreibung «organisch» wird nicht mehr verwendet. Manche dieser Veränderungen mögen der Simplifikation dienen, andere können als Ausdruck eines aktualisierten Wissensstands und nicht-haltbarer Observationen der vergangenen Jahrzehnte betrachtet werden. Doch egal wie die Definition lautet: Wenn Persönlichkeitsänderungen mit einem deutlichen Leidensdruck verbunden sind, soll eine den Symptomen angepasste Psychotherapie indiziert werden.