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Sollten wir in uns hineinschauen?

Ein Eintauchen in die antagonistische Dualität der Introspektion
Bilder: Jasmina Brunner

Die eigenen mentalen und emotionalen Zustände zu betrachten, also eine ausgeprägte Introspektionsfähigkeit zu haben, wird häufig als erstrebenswert wahrgenommen. Dieser Artikel gibt Einsicht in das Konstrukt der Introspektion sowie der Sonnen- und Schattenseiten mit besonderem Augenmerk auf Selbstdiskrepanz und Rumination.

Eine gute Übersicht der Kritik des Konstruktes der Introspektion, der verwendeten gängigen Methoden der Forschung, sowie Lösungsansätze für die Methodenproblematiken bietet ein Artikel von Trnka und Smelik (2020).

W ieso fühle ich mich so? Wieso habe ich dies oder jenes getan? Wer bin ich? Eine mögliche Strategie, um uns diesen Fragen zu stellen, ist die Richtung unserer Aufmerksamkeit nach innen, auf die subjektive Essenz unseres Seins, auf unser Selbst. Zumindest auf die Facette unseres Selbst, welche William James als das spirituelle Selbst, das «Ich» definierte, in Abgrenzung zum materiellen und sozialen Selbst, das «Mich» (James, 1892). Dieser Prozess, der Beobachtung eigener interner mentaler und emotionaler Zustände, wird Introspektion genannt. (Ullrich et al., 2023). Introspektion ist ein Konstrukt, welches in seiner Gänze schwer erforschbar ist, jedoch in zahlreichen Disziplinen diskutiert wird.

Die Introspektion ermöglicht es uns, sich unserer Selbst gewahr zu werden. Ob dies ein erstrebenswerter Zustand ist, kann nicht einfach mit der Tautologie «mehr ist mehr» beantwortet werden. Deshalb taucht dieser Artikel in ausgewählte Bereiche der Introspektion ein und beleuchtet, in welchen Kontexten introspektive Anstrengungen adaptiv, beziehungsweise maladaptiv sein können.

Selbstdiskrepanz und ihre Auswirkungen

Ein möglicher Faktor für multidirektionale Auswirkungen der Introspektion auf unser Befinden, wird durch die Selbstdiskrepanz-Theorie veranschaulicht. Diese geht davon aus, dass man verschiedene Selbstbilder von sich selbst wahrnimmt. Diese Selbstbilder sind das tatsächliche Selbst – wie man glaubt, momentan zu sein – das ideal-Selbst, dass sich aus Hoffnungen und Wünschen zusammensetzt und das soll-Selbst, das sich auf Aspekte bezieht, die als Aufgaben oder Verpflichtungen wahrgenommen werden. Wenn sich das subjektiv wahrgenommene, tatsächliche Selbst von dem ebenso subjektiven ideal-Selbst oder soll-Selbst unterscheidet, führt dies zu einer wahrgenommenen Differenz. Diese Differenz, Selbstdiskrepanz genannt, resultiert in negativen affektiven Konsequenzen. Je grösser die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Selbst und dem soll- beziehungsweise ideal-Selbst, desto grösser das affektive Leiden (Higgins, 1987). Die Selbstdiskrepanz-Theorie – die einen eher affektiven Fokus hat – besitzt einige Überlappungen mit der Inkongruenz, welche im Rahmen der Konsistenztheorie – welche sich eher auf motivationale Aspekte fokussiert – diskutiert wurde (Grawe, 2004). Beide Theorien sagen psychische Störungen, vor allem Affektive Störungen und Angststörungen, zuverlässig voraus und ganze Therapieverfahren bauen hierauf auf (z. B. Vieth, 2003). Das Mass an Selbstdiskrepanz scheint signifikant und relevant mit dem eigenen psychischen Wohlbefinden in Verbindung zu stehen.

Durch Introspektion wird unsere Selbstdiskrepanz salienter. Diese führt einerseits zu negativen affektiven Konsequenzen, andererseits treibt sie uns auch an, die subjektiv beste Version unserer Selbst zu werden.

Introspektion steigert die Salienz der Selbstdiskrepanz: Wenn man sich seiner eigenen Zustände bewusst wird, kann man auch eher Diskrepanzen oder Inkongruenzen wahrnehmen. Es wurde beispielsweise gezeigt, dass Selbstaufmerksamkeit mit negativem Affekt zusammenhängt (Mor & Winquist, 2002). Ist es also dysfunktional, die Aufmerksamkeit auf internale Vorgänge zu richten? Dass die Zusammenhänge etwas komplexer sind und es sich nicht einfach um eine defizitäre Theorie handelt, wird klar, wenn man die motivationalen Implikationen betrachtet. Die Theorie sagt voraus, dass bei Diskrepanz negative Emotionen entstehen; und diese können auch eine motivationale Komponente haben. Eine Diskrepanz zwischen dem Selbst, welches man gerade ist, und jenem, welches man sein will – beziehungsweise, welches wir von sich erwartet – kann daher antreiben und bei der eigenen Zielerreichung helfen, um die negativen affektiven Konsequenzen zu vermeiden. Die Reduktion von Selbstdiskrepanz kann aber nicht nur durch Annäherung an das Ideal- oder Soll-Selbst erreicht werden, sondern auch durch die Verringerung der Zugänglichkeit der Selbstdiskrepanz – also durch weniger Introspektion (Wechsler & Schütz, 2018). Die Introspektion kann uns also durch Selbstdiskrepanz antreiben, diese kann aber auch zu diversen Schwierigkeiten führen, falls sie nicht abgebaut wird oder abgebaut werden kann.

«When the path you walk always leads back to yourself, you never get anywhere.»

Master Oogway; Osborne, 2008

Das Paradox der Selbstreflexion oder Rumination

Die Selbstreflexion kann als Prozess verstanden werden, welcher durch Bewusstsein der eigenen unangenehmen Gefühle und Gedanken, über die kritische Analyse der Situation und schliesslich über die Entwicklung einer neuen Situationsperspektive, zu persönlichem Wachstum führt (Atkins & Murphy, 1993). Somit ist sie ein Teil des individuellen Reifeprozesses und wird daher in diversen Fachbereichen, wie der kognitiven Verhaltenstherapie (Bennett-Levy & Lee, 2014), in der Sozialarbeit (Gould & Taylor, 2017), sowie in Teamreflexions- und Personalbeurteilungsprozessen (West, 1996) angewandt. Die Forschung zeigt, dass Selbstreflexion generell funktional ist, jedoch an bestimmten Zeitpunkten besonders bereichernd zu sein scheint, z. B. nach abgeschlossenen Projekten oder wichtigen Lebensabschnitten. Des Weiteren ist es möglich, die eigene Selbstreflexion mit externen Inputs wie Feedback, sowie mit internen Inputs, wie Reflexionsfragen, zu stimulieren (Ispaylar, 2016).

Wenn dieser adaptive Gedankenprozess beginnt, sich nur noch um die gleichen Thematiken zu kreisen und zusätzlich eine Passivität vorhanden ist, so schlägt die Selbstreflexion in Rumination, also das «Wiederkäuen», um. Dieser Prozess ist maladaptiv und wurde als gesundheitsbeeinträchtigende Emotionsregulations-Strategie definiert (Smith & Alloy, 2009). Beispielsweise demonstrierte eine Meta-Analyse den prädiktiven Charakter der Rumination auf Affektive Störungen und Angststörungen mit einer mittleren Effektstärke (Olatunji et al., 2013).

Selbstreflexion ist gesund und ein wichtiger Faktor, um persönliches Wachstum zu verwirklichen. Wenn wir aber immer an denselben Themen kauen und nicht aktiv gegen die Stressoren vorgehen (emotional oder aktional), ruminieren wir und sollten versuchen, diesen maladaptiven Zustand zu beenden.

Introspektion – Schatten und Licht

Die Introspektion von uns führt über die Selbstdiskrepanz zu motivationalen Anreizen, jedoch auch zu negativem Affekt, wenn wir diese Diskrepanz nicht lösen können. So kann sie auch bei zu viel Selbstbeschäftigung in Rumination umschlagen. Eine Balance von Beschäftigen und Ablösen, sowie der Fokus auf Dinge, welche wir kontrollieren oder verändern können ist also vonnöten, um die besten Effekte auf unsere psychische Gesundheit und persönliche Entwicklung durch Introspektion zu erzielen.

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Referenzen