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Das Leben im Tod

Was nehmen wir wahr, während wir sterben? Eine unvollständige Antwort der Neurowissenschaften
Bilder: Anja Blaser

Nahtoderfahrungen verschaffen uns einen einzigartigen Einblick in das Erlebnis des Todes. Die Aktivität eines sterbenden Hirns kann diese Erfahrung – und den Sterbeprozess – in gewissem Umfang kontextualisieren.

I n der Schweiz sterben jährlich ca. 70’000 Menschen (BFS: Todesfälle). Jeder wurde schon einmal mit dem Tod konfrontiert, sei es durch das Ableben eines älteren Familienmitglieds, einem unerwarteten tödlichen Unfall eines*einer Bekannten oder durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Die Beurteilung des Todes ist stark individuell gefärbt: Während manche kaum über das Sterben nachdenken, stellen sich andere diesem schlussendlich eintretenden Prozess täglich. In einigen löst dieser Gedanke Unbehagen oder gar Angst aus, für andere trägt er keinerlei Konsequenzen. Auch die Vorstellungen darüber, was wir während und nach dem Tod wahrnehmen, unterscheiden sich erheblich nach Glauben, Philosophien und anderen Faktoren.

Der Tod in Reichweite

Viele Menschen, welche eine Nahtoderfahrung erleben, oder sogar für einen Moment als klinisch tot gelten, berichten von einer Art Lebensrückblick: Einzelne oder mehrere, zu einem ganzheitlichen Narrativ des eigenen Lebens zusammengeflochtene Erinnerungen spielen sich vor dem inneren Auge ab; der Mensch wie ein Zuschauer vor der Leinwand des Films seines Lebens (Nourkova, 2020).

«[E]very past incident of my life seemed to glance across my recollection in retrograde succession (…) the whole period of my existence seemed to be placed before me in a kind of panoramic review.»

Beaufort, 1825, zitiert nach Haddock, 1851, S. 212

Für den Grossteil der Menschheit, welcher nie eine Nahtoderfahrung erlebt hat, mag dies zugleich abstrakt und beruhigend klingen – die Möglichkeit, in den letzten Momenten mit Freude behaftete Ereignisse Revue passieren zu lassen und das eigene Ableben so gewissermassen kontextualisieren zu können, entnimmt dem Tod seine mysteriöse Qualität.

Der Tod unter dem Messgerät

In einer Publikation, welche 2022 in Frontiers in Aging Neuroscience erschien, könnte die neurophysiologische Basis dieses Erlebnisses nun gefunden worden sein. Ein neurochirurgisches Team um Dr. Vicente hat während einer Überwachung eines Notfallpatienten mittels Elektroenzephalographie womöglich zum ersten Mal die Hirnaktivität eines sterbenden Menschenhirns aufgenommen (2022). Dabei zeigten sich mehrere interessante Befunde bezüglich der Gammawellen. Oszillationen in diesem Bereich stehen mit höheren kognitiven Funktionen inklusive diverser Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozessen in Beziehung (Jadi et al., 2016). Eine erhöhte Aktivität im Gammaband war sowohl kurz vor und nach dem Herzstillstand des Patienten zu beobachten, obwohl die Aktivität der Alpha-, Beta- und Deltawellen gleichzeitig vermindert war (Vicente et al., 2022). Dabei wurde die Gamma-Aktivität vor allem durch das Alphaband moduliert, was unter anderem mit dem Erinnerungsabruf assoziiert wird (Vicente et al., 2022).

Es finden sich demzufolge mehrere Hinweise dafür, dass die Hirnaktivität während des Sterbens ein Art Lebensrückblick ermöglichen kann (Vicente et al., 2022).

Das grosse Aber

Neben diesen interessanten Implikationen enthält die Studie jedoch auch wichtige Limitationen. Das unübliche Studiendesign ermöglicht beispielsweise keinen Vergleich zu der Hirnaktivität des Individuums vor dem Ereignis. Zudem kann die neuronale Aktivität durchaus durch die in der Notfallsituation indizierten medikamentösen Behandlung sowie der Hirnschädigung beeinflusst worden sein (Greyson et al., 2022). Des Weiteren ist das Gammaband in den verschiedensten Prozessen involviert, und kann deshalb nicht zuverlässig exklusiv der Wiedergabe von Erinnerungen zugeschrieben werden (Greyson et al., 2022). Wir werden das Sterben also wohlmöglich nie vollständig verstehen, bis wir es selbst erleben.

Zum Weiterlesen

Referenzen