In der westlichen Welt sehen wir die Zeit als Linie, auf der wir stets in Richtung Zukunft gehen. Allerdings ist die lineare Zeit kein Naturgesetz – sie ist eine blosse Vorstellung. Und sie beeinflusst, wie es uns geht.
E rste Versuche, die Zeit zu erfassen, begannen vor mehr als dreitausend Jahren mit der Erfindung der Sonnenuhr. Aber erst um 1700 gelang es mit der Pendeluhr, Stunden, Minuten und sogar Sekunden relativ genau zu messen. Noch war die Zeit allerdings ein bunter Flickenteppich: In jedem Ort gingen die Uhren ein wenig anders und selbst innerhalb eines Ortes war man sich oft nicht ganz einig, welche Uhr denn jetzt die richtige ist. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert mussten Arbeitstätigkeiten koordiniert und die Zeit standardisiert werden. Pünktlichkeit wurde zu einer moralischen Tugend und die Zeit zum Taktgeber des Alltags – es begann die Diktatur der Uhr (Levine, 1998).
Die Uhr tickt überall gleich – oder doch nicht?
Der Sozialpsychologe Robert Levine untersuchte Ende des 20. Jahrhunderts das Lebenstempo in 31 verschiedenen Ländern. Das Ergebnis: Westeuropäische Länder hatten tendenziell das schnellste, nicht-industrialisierte Länder in Afrika, Asien, dem mittleren Osten und Lateinamerika tendenziell das langsamste Lebenstempo. Die Schweiz, das Land der Uhren, führte auf Platz eins die Liste an (Levine, 1998). Hauptdeterminante des Lebenstempos war die Wirtschaft, hinzu kommt heutzutage die Beschleunigung des subjektiven Zeiterlebens durch Technologie und Massenmedien (Gloy, 2021).
Wie wir die Zeit wahrnehmen, beeinflusst das psychische Wohlbefinden. Symptome von Burnout sind zum Beispiel innere Getriebenheit und das ständige Gefühl von Zeitknappheit (Burisch, 2006). Die Zeit vergeht zu schnell, man hetzt ihr hinterher. Wenn wir auf ein Ziel hinarbeiten – und das tun wir aufgrund des in die Zukunft gerichteten Blicks meistens – scheint die Zeit subjektiv allerdings noch schneller zu vergehen (Levine, 1998). Ein Teufelskreis.
«Die Europäer haben die Uhr, wir haben Zeit.»
Gut Ding will Weile haben
Levine fand in seinen Untersuchungen, dass Menschen in Ländern mit einem langsameren Lebenstempo weniger nach der Uhrzeit, sondern mehr nach der sogenannten Ereigniszeit leben. Nicht die Zeit bestimmt, wann ein Ereignis eintritt und endet, sondern umgekehrt: Ereignisse bestimmen die Zeit. Wenn die Nuer, ein Volk aus dem Sudan, ihr Lager bei dem Vieh aufschlagen, beginnt der Monat kur. Wenn sie ihre Zelte abbrechen und zurück in die Dörfer kehren, beginnt der Monat dwat. Und in Brasilien, berichtet Levine, kommt man oft zu spät, weil man davor noch in einer Unterhaltung war. Und die dauert so lange, wie sie eben dauert.
Aus der Zukunft aussteigen
Ein schnelles Lebenstempo und ein lineares Zeitkonzept sind aber per se nichts Schlechtes. Sie sind auch mit einer gut funktionierenden Wirtschaft und einer hohen Lebenszufriedenheit verbunden (Levine, 1998). Inzwischen sehnen sich aber viele Menschen nach Entschleunigung – sichtbar an der aktuellen Popularität von Achtsamkeit, der bewussten Verbindung mit dem gegenwärtigen Augenblick. Sind wir im Hier und Jetzt, fliesst die Zeit nicht als Linie in die Zukunft, sondern entsteht, wenn wir Moment für Moment aneinanderreihen, wie bunte Perlen auf eine Schnur.