Migränen gehören zu den neurologischen Erkrankungen und scheinen so auf den ersten Blick wenig Anspruch auf einen eigenen Artikel in einem psychologischen Magazin zu haben. Ihren Platz haben sie sich jedoch durch verschiedenste Schnittstellen mit der Psychologie fair erworben.
H attest du schon einmal Kopfschmerzen? Diese Frage wird kaum jemand verneinen können. Kopfschmerzen sind ein weitverbreitetes Phänomen, welches auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden kann: Umweltfaktoren wie Lärm oder körperliche Ungleichgewichtszustände wie Dehydration und Mangelernährung sind nur einige davon (Universitätsspiral Zürich: Kopfschmerzen). Für die meisten bilden diese Kopfschmerzen keinen Grund zur Sorge — sie werden als unangenehm oder gar lästig empfunden, verfliegen jedoch von selbst oder nach dem Ergreifen verschiedener Massnahmen und nehmen so langfristig wenig Platz in den Köpfen der Betroffenen ein.
Für andere stellt das Auftreten von Kopfschmerzen jedoch eine deutliche Beeinträchtigung der Lebenszufriedenheit und Funktionsfähigkeit dar; zu dieser Menschengruppe zählen Migräne-Patient*innen. Migränen werden in der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen (ICHD-3) unter der Gruppe der primären Kopfschmerzerkrankungen aufgeführt und zählen so als eigenständige Erkrankung (ICHD, 3. Auflage). Dabei wird weiterhin zwischen zwei Hauptgruppen unterschieden: Migränen ohne (1.1) und mit Aura* (1.2), wovon die letztere oft mit einer höheren Krankheitslast in Beziehung steht (ICHD, 3. Auflage). Laut dem Kantonsspital Winterthur leidet in der Schweiz jede zehnte Person an Migränen (meist ohne Aura) (Kantonsspital Winterthur: Migräne). Die Erkrankung betrifft also national rund eine Million Individuen (Kantonsspital Winterthur: Migräne).
Was ist eine Aura?
Unter einer Migräne mit Aura, früher auch klassische oder komplizierte Migräne genannt, werden Attacken verstanden, welche durch das Auftreten eines oder mehrerer zentralnervöser Symptome über mehrere Minuten bis zu einer Stunde gekennzeichnet sind (ICHD, 3. Auflage). Die Symptome bilden sich nach der Attacke vollständig wieder zurück und können das visuelle System, das Sprechen, die Motorik, die Sensorik, die Retina und/oder den Hirnstamm betreffen (ICHD, 3. Auflage).
Um eine Diagnose dieses Migränen-Typs zu erhalten, müssen mindestens zwei Attacken in Erfahrung gebracht worden sein, welche neben den oben erwähnten Kriterien drei der folgenden erfüllten (ICHD, 3. Auflage):
- mind. ein Symptom war einseitig
- mind. ein Symptom war positiv (d.h. etwas Zusätzliches, keine Verschlechterung)
- mind. ein Symptom entwickelte sich über fünf oder mehr Minuten
- alle Symptome dauerten 5-60 Minuten
- Kopfschmerzen begleiteten oder folgten der Aura innerhalb einer Stunde
- ≥ 2 Symptome folgten aufeinander
Viel Leid trifft auf wenig Verständnis
Welche Belastungen eine Erkrankung mit sich bringt, ist ohne eigene Erfahrung oft schwierig zu beurteilen, zumal ein Grossteil davon für Aussenstehende unsichtbar ist. Statistische Masse, wie jene der World Health Organisation (WHO), können die Bürde jedoch zu anderen gesundheitlichen Beschwerden und Gesundheitszuständen relativieren; ein Beispiel dazu bieten die Befunde des Global Burden of Disease Projekts. Bei einer globalen Untersuchung 328 verschiedener gesundheitlicher Beschwerden zwischen den Jahren 1990 und 2016 wurden Migränen als eine der häufigsten Ursachen für sogenannte «durch gesundheitliche Einschränkungen verlorene Lebensjahre» (englisches Akronym: YLDs) identifiziert (Vos et al., 2017). Im Jahre 2016 wurde die Anzahl dieser YLDs global auf 45.1 Millionen geschätzt – das heisst, dass durch die Erkrankung innerhalb eines Jahres 45.1 Millionen Lebensjahre mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen gelebt wurden (Stovner et al., 2018). Das Ausmass dieser gesundheitlichen Einschränkungen wird durch das Disability Weight Mass verdeutlich: Mit einem Wert von 0.433 soll der Gesundheitszustand während einer Migräneattacke jenem einer schweren Demenz (0.438) und der Gesundheit eines Individuums in den ersten zwei Tagen nach einem Herzinfarkt (0.422) ähneln (Leonardi & Raggi, 2013).
«Ich habe mein Gehirn in 3D auf CD und auf Röntgenbildern, da ist nichts, ein ganz normales Gehirn...»
Es ist somit gut fundiert, dass Migränen mit starken Einschränkungen assoziiert sind, und dass dies sowohl national als auch international viele Menschen betrifft — doch werden diese Fakten in der Gesellschaft und im medizinischen Sektor berücksichtigt? Viele der Betroffenen suchen trotz ernstzunehmendem Leid keine Ärzt*innen oder Spezialist*innen auf und erhalten folglich keinen Zugriff auf vorbeugende Medikamente; selbst, wenn eine ärztliche Abklärung stattfindet, wird die Erkrankung oft unter- oder fehldiagnostiziert und nicht adäquat behandelt (Katsarava et al., 2018; Eigenbrodt et al., 2021).
Beide Szenarien können teilweise der Stigmatisierung der Krankheit zugeschrieben werden. Das historische Verständnis, dass Migränen ein Phänomen «nervöser, schwacher oder gar hysterischer» Personen sind, hat sich durch die Jahrhunderte durchgeschlagen (Parikh et al., 2021). In einer Studie zur Stigmatisierung im Arbeitskontext finden sich solche Einstellungen beispielsweise darin, dass 45% der Befragten der Aussage zustimmen, dass Migränen einfach zu behandeln seien (Parikh et al., 2021). Weitere 36% vertreten die Meinung, dass die Erkrankung einem selbstverschuldeten ungesunden Lebensstil zu Grunde liegt (Parikh et al., 2021). Werden diese Einstellungen von Migräne-Betroffenen wahrgenommen, werden die eigenen gesundheitlichen Beschwerden invalidiert oder die psychische Gesundheit anderwärtig negativ beeinflusst (Parikh et al., 2021).
Was kam zuerst: Die psychische Störung oder die Migräne?
In der Literatur lautet der Konsens: Wo sich Migräneattacken finden, finden sich häufig auch Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit (Radat, 2021). Laut der Studie von Pistoia et al. (2022) weisen Migräne-Patientinnen ohne begleitende psychische Störung im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe signifikant höhere Werte an Insomnie-Symptomen, Eigenschaftsangst, Hoffnungslosigkeit und Rumination auf. Dabei heben sich vor allem die Werte von Patientinnen mit chronischer (statt episodischer) Migräne von der Kontrollgruppe ab; die Häufigkeit der Attacken moderiert also dessen Folgen.
«Migraine is a complex condition in which genetic predisposition interacts with other biological and environmental factors determining its course.»
Bezüglich psychischer Komorbiditäten wird neben den Angststörungen vor allem die Gruppe der depressiven Störungen mit der Erkrankung in Verbindung gebracht (Zhang et al., 2019). Dies ist kaum verwunderlich, zumal die emotionale und finanzielle Last chronischer Erkrankungen oft kausal depressive Symptome zur Folge hat (Zheng et al., 2020). Die Beziehung zwischen Migränen und depressiven Störungen scheint jedoch nicht unidirektional zu sein, vielmehr intensivieren sich die Störungen gegenseitig (Antonaci et al., 2011). So gilt die Präsenz einer depressiven Störung als Risikofaktor für die Chronifizierung von Migränen, während Migränen mit Aura bei einer begleitenden schweren depressiven Episode einen Risikofaktor für Suizidgedanken darstellen (Antonaci et al., 2011).
Die auffallend häufige Komorbidität kann auch auf gemeinsame ätiologische Faktoren attribuiert werden (Radat, 2021). Neben Umweltfaktoren wie dem Erleben eines oder mehrerer stressvoller und belastender Ereignisse wurden biologische Mechanismen wie die Aktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und dem serotonergen System als gemeinsame Einflussfaktoren identifiziert (Radat, 2021). Eine weitere Erklärung bietet die Zwillingsforschung, welche auf eine potenziell geteilte genetische Basis der Störungen aufmerksam macht (Zhang et al., 2019). Diesen Studien zufolge können ca. 20 Prozent der unterschiedlichen Ausprägungen von Depression und Migränen bei Zwillingen auf gemeinsame Gene zurückgeführt werden (Radat, 2021).
Umweltfaktoren, Biologie und Genetik werden also mit der Erkrankung assoziiert – über die genauen Ursachen von Migränen sowie über dessen zugrundeliegende Prozesse tappt die Wissenschaft jedoch bis heute teilweise im Dunkeln (Kantonsspital Winterthur: Migränen). Wie bei vielen neurologischen Erkrankungen wird für die Behandlung der Migräne weithin die Pharmakotherapie herangezogen, welche entweder auf die Minderung der Symptome oder auf das Vorbeugen einer Attacke ausgerichtet ist (Kantonsspital Winterthur: Migräne; Rosignoli et al., 2022). Psycho- und verhaltensbasierte Therapien werden hingegen trotz deren Potential zur Linderung der Intensivierung zwischen Migräne und psychischen Beschwerden kaum angewendet, obwohl sich in der Forschung über die Jahre Evidenz dazu angesammelt hat (Langenbahn et al., 2021).
Eine Therapieform, deren Wirksamkeit bei Migränen geprüft wurde, ist die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT). In einer Metaanalyse zu Migränen bei Kindern und Jugendlichen erwies sich eine von einer KVT begleitete Medikation bei der Häufigkeitsreduktion der Attacken gegenüber ihrem unbegleiteten Gegenstück als überlegen (Ng et al., 2017). Bei den erwachsenen Patient*innen sind die Befunde zum Einsatz diverser psychologischer Therapien einschliesslich der KVT hingegen etwas gemischter: Während ein Literaturreview einen kleinen bis moderaten positiven Einfluss auf die Migränefrequenz und Schmerzintensität (aber keinen Effekt auf die Lebensqualität und Stimmung) identifizierte, zeigten sich in einer anderen Metaanalyse keinerlei signifikante Effekte bezüglich der psychologischen oder neurologischen Beschwerden (Sharpe et al., 2019; Dudeney et al., 2022).
Als eine weitere effektive Alterative oder Ergänzung zur Pharmakotherapie bietet sich Mindfulness an. In einer Studie von Grazzi et al. (2017) erwiesen sich verschiedene Achtsamkeit-Übungen (ohne begleitende pharmakologische Behandlung) über den Zeitraum von sechs Wochen als gleich effektiv für die Reduktion der Migränehäufigkeit wie die Einnahme von vorbeugenden Medikamenten über denselben Zeitraum. Bei beiden Therapieansätzen fand sich diesbezüglich eine signifikante Verbesserung von ca. 50 Prozent (Grazzi et al., 2017).
Die Befunde dieser Studien und Metaanalysen stiften etwas Hoffnung: Die Vereinigung pharmakologischer und non-pharmakologischer Therapien repräsentiert die Entwicklung eines holistischeren Krankheitsverständnissen, welches der Komplexität der Erkrankung gerechter wird (Rosignoli et al., 2022). So können nicht nur diejenigen profitieren, welche neben der Migräne mit psychosozialen Stressoren zu kämpfen haben, sondern vor allem auch Migräne-Patient*innen, für welche eine Pharmakotherapie nicht in Frage kommt (Grazzi et al., 2017; Rosignoli et al., 2022). Ein Happy End bedeutet dies jedoch noch nicht für die Forschung dieses Themas: Bei vielen Studien finden sich methodische Mängel; kleine Stichproben und veraltete Daten, welche die Richtigkeit der Schlussfolgerungen in Frage stellen (Penzien et al., 2015). Die Durchführung qualitativ hochwertigerer Studien ist für eine erfolgreiche Verankerung der integrativen Therapie als zuverlässigen Behandlungsansatz in den Köpfen von Ärzt*innen von hoher Wichtigkeit (Penzien et al., 2015). Erweist sich der Ansatz als wirksam, kann zukünftig viel Leid umgangen werden.
*Grünes Licht soll für Migräne Patient*innen eine schmerzlindernde Qualität haben.