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Syndrom

Schmerzen ohne Ende

Wenn chronische Schmerzen das Leben prägen und den Alltag dominieren
Bilder: Muhammed Talha Atalay

Chronische Schmerzen prägen den Alltag der Betroffenen und stellen eine erhebliche Herausforderung dar, indem sie zu physischen, psychischen und sozialen Beeinträchtigungen führen. Was sind chronische Schmerzen, wie können sie behandelt werden, und welche Zusammenhänge bestehen zu psychischen Störungen?

R und sieben bis zehn Prozent der Bevölkerung leiden unter chronischen Schmerzen, die eine Behandlung erfordern (Fritzsche, 2020). Kopfschmerzen machen dabei den grössten Teil aus, gefolgt von Nacken- und Armschmerzen, Rücken- und Beinschmerzen sowie Muskel- und Skelettschmerzen an wechselnden Lokalisationen (z. B. Fibromyalgie).

Eingeschränkte Lebensqualität

«Als chronisch werden Schmerzen dann bezeichnet, wenn sie eine zentrale Bedeutung im Leben einnehmen, mit erfolglosen Therapieversuchen und Enttäuschungen verbunden sind, zu gravierenden Einschränkungen der Lebensqualität führen oder mit bedrückter Stimmung, Ängsten und reduzierter Leistungsfähigkeit einhergehen» (Nigles & Nagel, 2007, S. 2134).

Um die Herausforderungen, die mit chronischen Schmerzen einhergehen, besser zu erfassen, ist es hilfreich, die Unterschiede zwischen akuten und chronischen Schmerzen zu beleuchten. Akute Schmerzen zeichnen sich durch eine kurze Zeitdauer (Sekunden bis wenige Wochen) sowie einer Gewebeschädigung aus. Diese Art von Schmerzen haben eine Warn- und Schutzfunktion für den Körper. Normalerweise erfolgt ein Heilprozess und die Schmerzen klingen zunehmend ab, bis sie ganz verschwunden sind (Wager & Zernikov, 2015). Auch bei akuten Schmerzen ist die Schmerzwahrnehmung von psychischen Einflüssen betroffen, doch bei chronischen Schmerzen sind psychische und soziale Faktoren zunehmend von Bedeutung (Eccleston, 2001). Gemäss der International Associaciation For The Study Of Pain (IASP) wird chronischer Schmerz definiert als «Schmerz, der über die für die Heilung als angemessen betrachtete Zeit hinaus anhält» (Merskey & Bogduk, 1994). In der Praxis wird dieser Zeitraum gewöhnlich auf drei Monate festgelegt, dabei inkludiert sind sowohl dauerhafte als auch wiederkehrende Schmerzen (Wager & Zernikov, 2015). Chronischer Schmerz kann durch die Fokussierung auf die Schmerzen und der damit einhergehenden Diagnostik und Therapie zu einer deutlichen Einengung des Lebensstils führen (Kröner-Herwig, 2011).

«Pain is an unpleasant sensory and emotional experience with actual or potential tissue damage or described in terms of such damage.»

IASP, 1994, S. 210

Krankheitsmechanismen

Schmerzreize, die von ausserhalb oder innerhalb des Körpers stammen, werden von Schmerzrezeptoren, sogenannten Nozizeptoren, wahrgenommen und mittels Nervenbahnen über das Rückenmark zum Gehirn weitergeleitet. Im Gehirn sind zahlreiche Bereiche an der Schmerzverarbeitung beteiligt. Vom Thalamus aus werden die Signale an die Grosshirnrinde, die den Schmerz lokalisiert, an das limbische System, wo die emotionale Bewertung des Schmerzes stattfindet und an das Vorderhirn, welches die Aufmerksamkeit lenkt, übermittelt (Von Wachter, 2021).

Durch die Plastizität des Gehirns kann dies bei andauernden und immer wiederkehrenden Schmerzen zu einem «Schmerzgedächtnis», das heisst zu einem Lernen des Schmerzes führen. Dabei führt ein wiederholter oder andauernder Schmerzreiz zu einer erhöhten Übetragungsstärke an den Übergängen der Nervenzellenden (Synapsen), was zu einer Überempfindlichkeit der Nervenzellen auf Reize führt. Somit können bei einer Chronifizierung schon geringste Reize eine Schmerzempfindung verursachen (Von Wachter, 2021).

Ganzheitliche Betrachtung

Die o.g. Definition von Schmerz der IASP lässt die behaviorale Seite des Schmerzes ausser Acht. Diese stellt jedoch gerade bei chronischen Schmerzen einen zentralen Bestandteil des Schmerzerlebens dar. Gemäss Kröner-Herwig (2011) ist chronischer Schmerz als Syndrom zu verstehen, bei dem die Beeinträchtigung von Schmerzpatient*innen stark durch die emotional-kognitive und die behavioralen Aspekte beeinflusst wird. Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Kontrollverlust und Depressionen korrelieren daher mit chronischen Schmerzen und verstärken diese wahrscheinlich auch. Chronischer Schmerz ist anhand eines biopsychosozialen Modells zu verstehen. Dieses zeichnet sich durch biologische Prozesse des Schmerzes, dem oftmals dysfunktionalen Verhalten von Betroffenen sowie negativen Emotionen und Kognitionen aus (Kröner-Herwig, 2011).

Die Rolle der instrumentellen Konditionierung

In Abwesenheit von Schmerzreizen können chronische Schmerzen wie bereits erwähnt durch Lernprozesse aufrechterhalten werden. Verantwortlich dafür sind laut Fordyce (1976) positive Verstärkung (z.B. aufgrund Mitgefühl anderer), mangelnde Verstärkung gesunden Verhaltens (z. B. Arbeitstätigkeit) sowie der Wegfall eines unangenehmen Zustandes (z. B. körperliches Schonverhalten, Einnahme von Medikamenten). So zeigte auch eine Studie, dass eine schmerzverstärkende Komponente im Gegensatz zu einem nicht-schmerzverstärkenden Partner das Schmerzerleben von Patient*innen signifikant erhöht (Breitenstein, Flor & Birbaumer, 1994).

Emotionale Bedeutung

Schmerzen sind keine bloss sensorische Empfindung, die Begriffe wie «stechend, brennend oder schneidend» vermuten lassen. Sie gehen oft mit intensiven Emotionen einher. Dies wird in Schilderungen wie «scheusslich, quälend oder grausam» deutlich (Nigles & Nagel, 2007).

Chronische Schmerzen und psychische Störungen

Vor allem Angst und Depressionen gehen einher mit der Chronifizierung von Schmerzen (Fritzsche, 2020). Über Ursache und Wirkung lässt sich diskutieren. Zudem existiert eine spezifische psychische Krankheit, die mit chronischen Schmerzen im Zusammenhang steht. Unter der Sektion «Störung der körperlichen Belastung oder des körperlichen Erlebens» ist im ICD-11 die Körperliche Belastungsstörung aufgeführt. Sie zeichnet sich aus durch «körperliche Symptome, die für die Person belastend sind und worauf eine übermässige Aufmerksamkeit gerichtet wird (…)» (World Health Organization, 2022). Typischerweise suchen Betroffene wiederholt ärztliche Hilfe auf und möchten sich untersuchen lassen. Auch wenn klinische Untersuchungen keine positiven Befunde liefern, sind Betroffene stark der Überzeugung, an einer somatischen Krankheit zu leiden. Die Aufmerksamkeit ist in einem derartigen Ausmass auf die physischen Symptome gelenkt, sodass die Funktionsfähigkeit von Patient*innen stark beeinträchtigt ist.

Therapieansätze

Die Vielfältigkeit der Auswirkungen von chronischen Schmerzen erfordert ein breites Therapieangebot. Zentral sind nebst somatischen Therapien auch psychologische Interventionen. So können je nach Indikation medikamentöse Verfahren, eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Schmerztherapie, elektrische Reizung, Akupunktur, neurochirurgische Läsionen am Nervensystem, Biofeedback und Entspannungsverfahren zur Linderung der Schmerzen und zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen.

Ein zentraler Aspekt der Schmerztherapie ist die Schmerzedukation. Dadurch soll das Verständnis für die Krankheit erweitert und psychosoziale Faktoren chronischer Schmerzen anerkannt werden, ohne somatische Faktoren ausser Acht zu lassen. Ziel ist es, die aktive Beteiligung von Schmerzpatient*innen an der Therapie zu fördern. (Kappis et al., 2023).

Diese ganzheitliche Herangehensweise unterstreicht die Komplexität chronischer Schmerzen, die nicht allein mit rein somatischen oder psychischen Faktoren erklärt werden können. Vielmehr entsteht chronischer Schmerz aus einem bio-psycho-sozialen Zusammenspiel. Folglich erfordert die Diagnostik und Therapie unweigerlich eine interdisziplinäre Sichtweise, die alle Aspekte des Schmerzempfindens und dessen Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen berücksichtigt.

Zum Weiterlesen

Referenzen

  • Breitenstein, C., Flor, H., & Birbaumer, N. (1994). Kommunikations-und Problemlöseverhalten von chronischen Schmerzpatienten und ihren Partnern. Zeitschrift für klinische Psychologie, 23(2), 105 –116.
  • Eccleston, C. (2001). Role of psychology in pain management. British journal of anaesthesia, 87(1), 144 –152.
  • Fordyce, J. W. (1976). Continuing education as external relations. Peabody Journal of Education, 53(3), 151 –156.
  • Fritzsche, K. (2020). Chronische Schmerzen. In: Fritzsche, K., Wirsching, M. (eds). Basiswissen Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61425-9_11
  • IASP Subcomittee on Taxonomy (1994) Classification of chronic pain. Seattle
  • Kappis, B., Von Wachter, M., Pfeiffer, S., Kappesser, J. & Hermann, C. (2023). Chronische Schmerzen verstehen und erklären: Schmerzedukation als wesentlicher Baustein für die Therapie. In: Psychotherapeutenjournal, 22(1), 21 –29. https://pubpsych.zpid.de/pubpsych/Search.action?search=&q=ISSN=%221611-0773%22&stats=LNK
  • Kröner-Herwig, B., Klinger, R., Frettlöh, J., & Nigels, P. (2011). Schmerzpsychotherapie. Springer, Berlin, Heidelberg.
  • Merskey H. & Bogduk N. (1994). Classification of chronic pain, IASP Task Force on Taxonomy. IASP Press, Seattle
  • Nigles, P. & Nagel, B. (2007). Was ist chronischer Schmerz? In: Dtsch Med Wochenschr 2007; 132(41): 2133-2138. DOI: 10.1055/s-2007-985653
  • Von Wachter, M. (2021). Chronische Schmerzen. (3. Auflage). Springer, Berlin. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63231-4
  • Wager, J. & Zernikow, B. (2015). Was ist Schmerz?. In: Zernikow, B. Schmerztherapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-45057-4_1
  • World Health Organization. (2022). ICD-11: International classification of diseases (11th revision). https://icd.who.int/