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Warum normal sein gar nicht so normal ist… und warum reden hilft

Eine Buchrezension
Bilder: Melina Camin

Zwischen Studium und Alkoholeskapaden, dem Schein der Normalität, tiefen depressiven Löchern und Genesung, nimmt Dominique de Marné Leser*innen in diesem Buch mit auf die Reise «on the borderline». Sie gewährt nicht nur Einblicke in ihr Leben mit psychischen Erkrankungen, sondern auch in ihre persönliche Lebensmission.

«Wie hat denn bitte auszusehen, wenn man eine Depression hat? Dass ich eine Depression habe, heisst nicht, dass ich eine Depression bin.»

de Marné, 2019, S.85

D ie Jahresprävalenz für psychische Erkrankung liegt laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. bei 27,8 Prozent (DGPPN, 2023). Das bedeutet, dass in Deutschland jährlich 17,8 Millionen Menschen von psychischen Störungen betroffen sind. Eine 2016 veröffentlichte prospektive Kohortenstudie aus Zürich schätzt die Lebenszeitprävalenz auf 73,9 Prozent (Angst et al., 2016). Dominique de Marné spricht in ihrem Buch davon, dass über ein Drittel aller Deutschen mindestens einmal in ihrem Leben ein behandlungsbedürftiges psychisches Problem haben. Obwohl diese Zahlen zeigen, dass es sich bei psychischen Problemen um ein weit verbreitetes Phänomen handelt, sind sie noch immer stark stigmatisiert. An diesem Punkt setzt de Marnés Buch an, denn sie ist überzeugt, dass #redenhilft und #zuhörenauch.

Zwischen Familienferien, Dänemark-Reisen und handgefertigten Fotoalben erlebte de Marné eine ziemlich normale Kindheit. Allein ihre intensive Gefühlswelt, das schwarz-weisse Erleben zwischen hassen und lieben, absoluter Freude und tiefster Trauer, sieht sie heute als Hinweise auf die Erkrankungen, welche bei ihr im Alter von 16 Jahren ausbrechen sollten, dann jedoch noch über zehn Jahre unerkannt und damit eben auch unbehandelt blieben.

«Mir hätte es geholfen, wenn ich früher gewusst hätte, dass ich krank bin. Dass ich nicht nur einfach komisch, schwach, unfähig, dumm, anders bin, es im Gegensatz zu allen anderen nicht auf die Reihe bekomme. Dass es für so viele meiner Probleme eine Erklärung gibt, eine Diagnose […].»

de Marné, 2019, S.11

«Ich möchte und werde verändern, dass und wie wir über psychische Krankheiten sprechen. Merke, dass ich etwas verändern kann, anderen helfen kann – und dabei gleichzeitig mir helfe.»

de Marné, 2019, S.225

Ihr vermeintlich normales Leben wird früh durch die schwere Krebserkrankung ihres Vaters und das Erleben einer Vergewaltigung gestört. Ab ihrem siebzehnten Lebensjahr findet de Marné in Mr. A, wie sie den Alkohol auch nennt, und selbstverletzendem Verhalten treue Begleiter. Sie helfen ihr durch den Tag zu kommen, ihre chaotische «Borderline-Gefühlswelt» auf Trab und die Anspannung in ihrem Leben auszuhalten. De Marnés wichtigstes Anliegen: nicht auffallen, einfach «normal» weiterleben. So beginnt ihr Doppelleben. Nach Außen gibt sie sich glücklich, vertuscht ihren übermässigen Alkoholkonsum und trägt selbst bei 38 Grad im Schatten noch langärmlige Oberteile, denn niemand soll die Narben an den Armen sehen. Für den Schein der Normalität opfert de Marné über Jahre ihr Wohlbefinden, verbietet sich mit sich selbst oder anderen über ihre Probleme zu sprechen.

Erst nach über 2‘500 Tagen, an denen sich de Marné mit Alkohol und Selbstverletzung «selbst therapierte», kam die Erlösung. Die Erkenntnis, dass sie es alleine nicht schaffen konnte und die Möglichkeit ambulant und stationär therapiert zu werden, führten de Marné aus ihrer Münchner Heimat weit weg nach Hamburg. Dort lernte sie neue Skills, um mit ihren Gefühlen umzugehen und realisierte, wie viele Menschen mit psychischen Krankheiten auch während der Zeit in einer Klinik den Schein der Normalität nach Aussen aufrecht erhielten. De Marné war schockiert und schnell war für sie klar, dass sich daran etwas ändern musste – dass sie selbst etwas ändern konnte, das allen Menschen helfen würde. So begann sie nach ihrem Studienabschluss bald den Blog Traveling | the | Borderline auf dem sie ihre persönlichen Erfahrungen rund um die Themen Borderline, Depression, Alkohol und Stigmatisierung teilen und so einen offeneren Dialog starten wollte.

In ihrem Buch aus 2019 nimmt de Marné die Lesenden mit auf eine Reise durch ihre eigene Krankheits- und Genesungsgeschichte. Exemplarisch zeigt sie anhand der Puzzleteile ihres Lebens auf, welche Themen im Leben psychisch kranker Menschen eine Rolle spielen (können) und folgt dabei ihrer persönlicher Lebensmission auf dem Weg zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen.

Psychoedukation für alle

De Marné versteht ihr Buch als Beitrag zu einer öffentlich, niederschwellig zugänglichen Psychoedukation für die gesamte Bevölkerung. In anschaulicher und leicht verständlicher Sprache führt sie in die Thematik psychischer Erkrankungen ein. Über die Gründe, welche zu psychischen Erkrankungen führen, sowie die Diagnosestellung mittels Manualem wie der DSM-5 und dem ICD-10 (das Buch wurde vor dem Übergang zum neuen Manual ICD-11 veröffentlicht), erläutert de Marné auch die bekanntesten Therapiekonzepte, den Weg und die Probleme auf der Suche nach einem Therapieplatz und widmet ein ganzes Kapitel der Frage, wie mensch mit unsichtbaren Krankheiten umgehen kann. So schlüsselt sie nicht nur die Diagnosekritierien für Krankheiten wie Borderline oder Depressionen auf, sondern erläutert auch Schlüsselbegriffe der Psychologie wie Prävalenz oder Vulnerabilität. Diese Schlüsselbegriffe werden im Text fettgedruckt. Daneben gibt es immer wieder in Textkästen genauere Anmerkungen zu einzelnen Themen oder Antworten auf Fragen, etwa dazu, wie mit selbstverletzenden Verhalten von Jugendlichen umgegangen werden sollte.

Dominique de Marné wurde 1986 geboren. Die schwere Krebserkrankung ihres Vaters sowie das Erleben einer Vergewaltigung als Jugendliche führten zum Ausbruch ihrer schweren psychischen Erkrankungen. Trotz allem studierte de Marné Kommunikation und Psychologie, schaffte durch ambulante und stationäre Therapien den Weg zurück in ein Leben, das normal und doch auch anders ist. Ihr Engagement für die Entstigmatisierung psychischer Störungen begann 2015 mit ihrem Blog Traveling | the | Borderline, seither ist de Marné vor (inter)nationalem Publikum bei Vorträgen, Workshops und Weiterbildungen zu sehen. 2019 eröffnete sie das erste deutsche Mental-Health-Café «Berg und Mental», 2021 veröffentlichte sie mit «Ich bin nicht komisch, mein Kopf funktioniert nur anders» ihr zweites Buch. Auf Instagram kann mensch unter dem Namen «mentalhealthinique» heute ihre persönliche Mission, ihren Umgang mit den eigenen Erkrankungen und ihr Leben als Mutter mit psychischen Problemen, wie auch ihre Passion fürs Laufen verfolgen.

Ihre Gedanken und Erkenntnisse sammelt de Marné im Kapitel «Einige Worte an…» nochmal und richtet sich direkt an Betroffene, Angehörige, Arbeitgebende, Politik und viele mehr. De Marné hat ein eindrückliches populärwissenschaftliches Buch verfasst, dass sich sprachlich eindeutig an Laien, Betroffene und psychologisch Interessierte Menschen richtet. Zugleich kann das Buch auch für Fachpersonen aus dem Bereich Psychologie, Therapie und Psychiatrie wichtige Einblicke zulassen, da de Marné neben den stets sachlichen Erläuterungen immer noch ihre persönlichen Erfahrungen, Gedanken und Wünsche darstellt. Einzig ein Wermutstropfen bleibt dabei. Beim Lesen wünscht mensch immer wieder, dass sie noch ausführlicher über ihr Erleben schreiben würde – ihr Schreibstil schafft es einerseits die Schwere der Thematik darzustellen und zugleich Lust auf mehr zu machen. Es ist jedoch verständlich, dass de Marné sich in diesem Format auf die wichtigsten Anmerkungen und Anekdoten beschränkt.

Der populärwissenschaftliche Charakter dieses Buches wird nicht nur durch den Schreibstil, sondern auch durch die Darstellung der Quellen deutlich. So finden sich im Text keinerlei Verweise, stattdessen steht am Schluss des Buches eine Auflistung aller Texte und Berichte, welche de Marné als Grundlage verwendet hat.

Alles in Allem handelt es sich hier nichtsdestotrotz um ein empfehlenswertes populärwissenschaftliches Buch, das sachlich, fundiert und mit dem nötigen Feingefühl in Thematiken der psychischen Erkrankung einführt. De Marné zeigt, wie wir normal über dieses Thema sprechen könnten, das so oft ins Abseits gedrängt wird, obwohl es die meisten Menschen auf irgendeine Art und Weise betrifft. Sie steht dafür ein, dass es gar nicht so komisch ist, anders zu sein und es keinen Sinn macht, eine vermeintliche Normalität vorzuspielen und sich dabei selbst zu verleugnen. Denn letztlich ist klar, dass #redenhilft und #zuhörenauch.

Zum Weiterlesen

  • Angst, J., Paksarian, D., Cui, L., Merikangas, K. R., Hengartner, M. P., Ajdacic-Gross, V., & Rössler, W. (2016). The epidemiology of common mental disorders from age 20 to 50: results from the prospective Zurich cohort Study. Epidemiology and Psychiatric Sciences, 25(1), 24-32. https://doi.org/10.1017S204579601500027X
  • De Marné, D. (2019). Warum normal sein gar nicht so normal ist: … und warum reden hilft. Scorpio.
  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN). (2023). Basisdaten: Psychische Erkrankungen.

Referenzen

  • De Marné, D. (2019). Warum normal sein gar nicht so normal ist: … und warum reden hilft. Scorpio.