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Don't let me down

Kodependenz in romantischen Beziehungen
Illustration zweier Personen, die auf etwas zeigen
Bilder: Janice Lienhard

Wie viel emotionale Bindung in einer Beziehung ist zu viel? Wie kann Kodependenz entstehen und wie wirkt sie sich auf lange Sicht auf beide Partner*innen und auf die Beziehungsqualität aus?

G erade am Anfang einer romantischen Beziehung kann man oft kaum genug voneinander bekommen. Sich täglich zu sehen und viel Zeit miteinander zu verbringen, fühlt sich einfach schön und richtig an. In manchen Fällen kann eine Beziehung aber vereinnahmend werden, sodass ein oder beide Partner*innen in ungesundem Masse voneinander abhängig werden. In diesem Zusammenhang taucht der Begriff der Kodependenz auf.

Kodependenz und Geschlechterstereotype

Das Konstrukt der Kodependenz wird von manchen Forschenden kritisiert, weil es viele Charaktereigenschaften der traditionell weiblichen Geschlechterrolle beinhaltet und auch als eine Konsequenz von Geschlechterstereotypen anstelle eines individuellen Problems der betroffenen Person aufgefasst werden könnte. Die Frage ist daher, ob der Begriff gesellschaftlich prävalentes Verhalten von Frauen unnötig pathologisiert, anstatt bei ungünstigen Machtdynamiken und u. U. missbräuchlichen Partnern anzusetzen (Cowan et al., 1995). Aufgrund der konzeptuellen Verwirrung und verschiedenen Definitionen ist es schwierig, die Prävalenz von Kodependenz für die Geschlechter zu bestimmen, es wurde aber gezeigt, dass Männer ebenso betroffen sein können (Martsolf et al., 1999).

Was genau ist Kodependenz?

Der Begriff der Kodependenz wurde erstmals im Kontext von Substanzabhängigkeit gebraucht, um Familienmitglieder zu beschreiben, welche ungünstige Verhaltensmuster einer substanzabhängigen Person durch ihr eigenes Verhalten, wie die Krankmeldung des*der alkoholabhängigen Partners*in auf der Arbeit, unbewusst aufrechterhalten (Whitfield, 1984, aus Happ et al. 2023). Nach aktuellem Verständnis betrifft Kodependenz allerdings nicht nur Beziehungen, welche durch Substanzabhängigkeit eines*einer Partners*in geprägt sind, sondern kann prinzipiell jede soziale Beziehung beschreiben. Es gibt verschiedene Ansätze für die Definition von Kodependenz, die jeweils unterschiedliche Aspekte betonen. Eine vielgenutzte Arbeitsdefinition von Spann und Fischer (1990) beschreibt das Konstrukt als einen psychosozialen Zustand, der sich in dysfunktionalen Beziehungsmustern äussert und durch einen extremen Fokus ausserhalb des Selbst, fehlenden Ausdruck von Gefühlen und dem Versuch, Sinn in Beziehungen zu erfahren, charakterisiert ist.

Abhängige Persönlichkeitsstörung und Borderline Persönlichkeitsstörung

Persönlichkeitsstörungen sind gekennzeichnet durch stabile Charaktereigenschaften, die der Person selbst oder dem sozialen Umfeld Probleme bereiten. Die abhängige oder dependente Persönlichkeitsstörung beinhaltet unterwürfiges und anklammerndes Verhalten sowie ausgeprägte Angst in vielen Situationen.

Die Borderline Persönlichkeitsstörung ist durch ein hohes Mass an Impulsivität und instabilen zwischenmenschlichen Beziehungen sowie einem instabilen Selbstbild geprägt. Von einer Persönlichkeitsstörung wird jeweils nur gesprochen, wenn die Person in vielen Situationen abweichende Muster im Erleben und Verhalten zeigt, und dadurch Leid oder hohe Beeinträchtigungen beispielsweise im sozialen oder beruflichen Kontext entstehen. Die Störung muss ausserdem lang anhaltend sein, und darf nicht besser durch eine andere Störung psychischer oder physischer Art erklärbar sein (Barnow & Miano, 2020).

Eine kodependente Person fokussiert sich also in ungesundem Aussmass auf die Bedürfnisse und Gefühle des*der Beziehungspartners*in, fühlt sich verantwortlich und hat Schwierigkeiten, die eigenen Gefühle zu regulieren. Die eigenen Ressourcen werden als unzureichend wahrgenommen, um Probleme zu lösen und es besteht grosse Angst, den*die Partner*in zu verlieren (Hapon & Vovk, 2020). Beispielsweise könnte eine kodependente Person während eines Streits immer dem*der Partner*in Recht geben, obwohl das Problem für sie nicht gelöst ist, oder eine offene Konfrontation ganz vermeiden, weil sie zu grosse Angst hat, verlassen zu werden und ihr Leben nicht alleine meistern zu können.

In Studien wurde gefunden, dass Kodependenz einen starken Zusammenhang mit der abhängigen Persönlichkeitsstörung und der Borderline Persönlichkeitsstörung hat (Knapek et al., 2017) sowie oft mit geringem Selbstwert und depressiven Symptomen (Martsolf et al., 2000, Hughes-Hammer et al., 1998) einhergeht.

Wie entsteht Kodependenz in einer Beziehung?

Es wird angenommen, dass kodependentes Verhalten aus ungünstigen Kommunikationsmustern und dysfunktionalen Verhältnissen in der Kindheit entsteht (Hapon & Vovk, 2020). Einige Studien fanden Zusammenhänge zwischen Kodependenz und emotionalem oder physischem Missbrauch sowie autoritärem Erziehungsstil, Mangel an Akzeptanz und einer unterdrückenden Atmosphäre in der Kindheit. Das bedeutet, dass Kinder, die beispielsweise nicht ermutigt werden, ihre Gefühle auszudrücken, oder die durchgehend destruktive Kommunikation zwischen den Eltern miterleben, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, später kodependentes Verhalten zu entwickeln. Cullen und Carr (1999) weisen allerdings darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen dysfunktionalen Erlebnissen in der Kindheit und der Entwicklung von kodependenten Tendenzen noch nicht endgültig geklärt ist.

«Codependency as a specific pattern of relating to others amplifes the problems in the intimate relationship, without affecting the positive forms of cooperation»

Happ et al., 2023, S. 15692

Wie wirkt sich Kodependenz auf die Beziehungsqualität aus?

Cowan et al. (1995) fanden in einer Studie, dass Personen mit hohen Kodependenzwerten eher indirekte Strategien verwendeten, um ihre Bedürfnisse durchzusetzen. Anstatt offen über ein unerfülltes Bedürfnis zu sprechen, könnte die Person sich emotional zurückziehen oder sich kalt verhalten, um eine Veränderung zu erreichen. Solche indirekten Strategien sind langfristig allerdings nicht förderlich für eine gute Beziehungsqualität. Eine Studie von Happ et al. (2023) zeigte ausserdem, dass kodependente Partner*innen ungünstigere Strategien zur Bewältigung von Beziehungsproblemen und Stress ausüben (beispielsweise feindseliges, oberflächliches oder mehrdeutiges Verhalten in Stresssituationen), was sich insgesamt negativ auf die Beziehung und die allgemeine Zufriedenheit mit dem eigenen Leben auswirken kann. So bewerten kodependente Personen ihre Beziehung als problematischer als Personen mit niedrigen Kodependenzwerten. Cullen & Carr (1999) fanden, dass Kodependenz mit einer Reihe von Beziehungsproblemen zusammenhängt; unter anderem bei der Kommunikation, der Rollenverteilung und beim Ausdruck von Emotionen und Werten (Cullen & Carr, 1999).

Fazit

Kodependenz geht mit ungünstigen Beziehungsstrategien einher und kann sich negativ auf die Lebensqualität auswirken (Hands & Dear, 1994). Für die betroffenen Personen kann es schwierig sein, aus erlernten Denk- und Verhaltensmustern auszubrechen und ein starkes Selbstbild zu entwickeln. Einzel- oder Paartherapie kann dabei helfen, ein stärkeres Gefühl des Selbst in dem*der kodependenten Partner*in aufzubauen und positive Kommunikationsmuster zwischen den Personen zu etablieren (Hapon & Vovk, 2020).

Zum Weiterlesen

  • Happ, Z., Bodó-Varga, Z., Bandi, S. A., Kiss, E. C., Nagy, L., & Csókási, K. (2023). How codependency affects dyadic coping, relationship perception and life satisfaction. Current Psychology, 42(18), 15688-15695.
  • Knapek, É., Balázs, K., & Szabó, I. K. (2017). The substance abuser’s partner: Do codependent individuals have borderline and dependent personality disorder?. Addiction is a treatable disease.

Referenzen

  • Barnow, S. & Miano, A. (2020). Persönlichkeitsstörungen. In J. Hoyer & S. Knappe (Hrsg.) Klinische Psychologie & Psychotherapie (3. Aufl., S. 1299-1318). Springer.
  • Cullen, J., & Carr, A. (1999). Codependency: An empirical study from a systemic perspective. Contemporary Family Therapy, 21, 505-526.
  • Cowan, G., Bommersbach, M., & Curtis, S. R. (1995). Codependency, loss of self, and power. Psychology of Women Quarterly, 19(2), 221-236.
  • Hands, M., & Dear, G. (1994). Co‐dependency: a critical review. Drug and Alcohol Review, 13(4), 437-445.
  • Hapon, N., & Vovk, A. (2020). Codependency in family systems with distorted patterns and their manifestation in an individual’s social behaviour. Personality in society: Psychological Mechanisms of activity, 1.
  • Happ, Z., Bodó-Varga, Z., Bandi, S. A., Kiss, E. C., Nagy, L., & Csókási, K. (2023). How codependency affects dyadic coping, relationship perception and life satisfaction. Current Psychology, 42(18), 15688-15695.
  • Hughes-Hammer, C., Martsolf, D. S., & Zeller, R. A. (1998). Depression and codependency in women. Archives of Psychiatric Nursing, 12(6), 326-334.
  • Knapek, É., Balázs, K., & Szabó, I. K. (2017). The substance abuser’s partner: Do codependent individuals have borderline and dependent personality disorder?. Addiction is a treatable disease.
  • Martsolf, D. S., Hughes-Hammer, C., Estok, P., & Zeller, R. A. (1999). Codependency in male and female helping professionals. Archives of psychiatric nursing, 13(2), 97-103.
  • Martsolf, D. S., Sedlak, C. A., & Doheny, M. O. (2000). Codependency and related health variables. Archives of psychiatric nursing, 14(3), 150-158.
  • Spann, L., & Fischer, J. L. (1990). Identifying co-dependency. The Counselor, 8(27), 27-31.