Störungen definieren sich durch ein Abweichen von der Norm – doch was, wenn das Störungsbild Einzelner von der Gruppennorm ihrer Störung abweicht? In diesem Artikel geht es um das Erleben der ADHS bei Frauen und um die Folgen dieser Störung in jedem Lebensabschnitt.
D er Begriff der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ruft wohl bei vielen ein ähnliches Bild in den Kopf: einen unruhigen, als wild beschriebenen Jungen in der Primarschule, welcher sich nicht auf seine Aufgaben fokussieren kann und sich dadurch zahlreiche Mahnungen von Lehrkräften einsammelt. Tatsächlich wird eine Diagnose dieser Entwicklungsstörung hauptsächlich an Knaben vergeben, weil sie durch ihre Hyperaktivität auffallen (Ryffel-Rawak, 2017). Das Störungsbild kann jedoch auch nur eine «blosse» Unaufmerksamkeit umfassen, welche im Alltag weniger Aufmerksamkeit auf sich zieht und daher öfters klinisch unentdeckt bleibt, bis sich die Störung Jahre später schliesslich durch schweres Leiden und ein mangelndes Funktionsniveau oder im Zuge einer Diagnostik zu einer komorbiden Störungen wie der Depression oder Suchstörungen offenbart (Ryffel-Rawak, 2017). In den Bereich von ADHS-Patient*innen, die überwiegend oder ausschliesslich von Unaufmerksamkeitssymptomen betroffen sind, auch Träumer*innen genannt, fallen viele Mädchen, welche zu Frauen mit unerklärtem Leiden heranwachsen (Ryffel-Rawak, 2017).
ADHS-Typen
Aktuell sind die ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Ed. 11) und das DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Ed. 5) die wichtigsten Klassifikationssysteme für psychische Störungen. In der ICD-11 wird für eine ADHS der Code 6A05 vergeben, auf welchen je nach Symptompräsentation nach dem Punkt einer von drei sogenannten Specifiers folgt (World Health Organization, 2019):
- 0 für eine ADHS mit vorwiegender Unaufmerksamkeits-Symptomatik (6A05.0)
- 1 für eine ADHS mit vorwiegender Hyperaktivität-Impulsivitäts-Symptomatik (6A05.1)
- 2 für eine kombinierte ADHS (6A05.2)
Die Spezifizierung der Codes, welche die verschiedenen ADHS-Typen darstellen, findet nach gleichem Schema im DSM-V statt, wobei eine kombinierte Präsentation den Code 314.01 (F90.2), eine vorwiegend unaufmerksame Präsentation den Code 314.00 (F90.0) und eine vorwiegend hyperaktive-impulsive Präsentation den Code 314.01 (F90.1) trägt (Murray, 2022).
Klinische Unterschiede zwischen Männern und Frauen
Da die ADHS zu der Störungsgruppe der Entwicklungsstörungen gehört, ist es nicht verwunderlich, dass sie vor allem bei Kindern diagnostiziert wird – von Interesse ist jedoch die unterschiedliche Geschlechterverteilung zwischen betroffenen Erwachsenen und betroffenen Kindern (Murray et al., 2019). So nähern sich im Erwachsenenalter die Prävalenzen zwischen den Geschlechtern an, während im Kindesalter pro drei Jungen ein Mädchen eine ADHS-Diagnose erhält (Murray et al, 2019). Grund für den Geschlechterunterschied im Kindesalter ist grösstenteils der bereits erwähnte Unterschied in der Präsentation der Symptome: So internalisieren weibliche Betroffene eher ihre Symptome und zählen somit zum unaufmerksamen Subtyp, während eine Mehrheit der männlichen Betroffenen die Symptome externalisiert und somit zum hyperaktiven oder impulsiven Subtyp gezählt werden (Quinn & Madhoo, 2014; Skogli et al., 2013).
Wie kommt es dazu, dass vor allem weibliche Patientinnen die Symptome internalisieren? Die Internalisierung der Symptome bei Mädchen ist assoziiert mit folgenden Faktoren:
- einem tieferen Selbstbewusstsein
- einem negativen Selbstbild
- einer schlechteren Beziehung zu den Eltern
- einer schlechteren Beziehung zu Mitschüler*innen
- mehr Schwierigkeiten mit sozialem Verhalten
- einer tieferen psychischen Gesundheit
welche sowohl als Auslöser als auch Konsequenz der Internalisierung verstanden werden können und dazu führen, dass die Störungsbilder zwischen den Geschlechtern noch weiter auseinander gehen (Quinn & Madhoo, 2014).
«Diese Mädchen sind keine Störenfriede, weder in der Familie noch in der Schule, ihre Defizite werden nicht wahrgenommen und dieser Umstand kann schwerwiegende Folgen (…) mit sich bringen.»
Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keine hyperaktiven, impulsiven ADHS-Mädchen gibt. Vielmehr ist es jedoch der Fall, dass sich Mädchen aufgrund der Sozialisierung besser anpassen können und somit den Schulfrieden weniger stark beinträchtigen (Ryffel-Rawak, 2017). Des Weiteren tendieren betroffene Mädchen im Kontrast zu betroffenen Jungen eher dazu, Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um die durch die Störung ausgelösten unterdurchschnittlichen Leistungen auszugleichen (Quinn & Madhoo, 2014). Zudem kompensieren sie die Symptome eher durch familiäre Unterstützung und ein hohes Leistungspotential (Ryffel-Rawak, 2017). Neben dem Nicht-Auffallen ADHS-betroffener Mädchen trägt unter anderem das Alter des Ausbruchs der Störung zu der Annäherung der Prävalenzen der Geschlechter im Erwachsenenalter bei (Murray et al., 2019). Die Adoleszenz führt durch ihre Vielfältigkeit neuer Entwicklungsaufgaben unabhängig vom Geschlecht zu einer Vermehrung der Symptome (Murray et al., 2019). Frauen zeigen im Vergleich zu Männern jedoch eine stärkere Symptomverschlechterung, während männliche Betroffene diese grösstenteils im Kindesalter präsentieren (Murray et al., 2019). Dieses Phänomen ist unter anderem auch für den geringen Anteil hyperaktiver-impulsiver AD(H)S-Mädchen zuständig: Aufgrund des diagnostischen Manifestationsalter von unter zwölf Jahren im DSM-V und der ICD-11 werden Frauen eher von dieser Diagnose ausgeschlossen, da bei ihnen die Symptome erst später verstärkt auftreten (Murray et al., 2019).
«‹Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt›: So beschreiben sich ADHS-Betroffene Frauen.»
Von Emotionen überflutet
Weder in der ICD-11 noch im DSM-5 wird emotionale Dysregulation als ein Hauptsymptom der ADHS-Störung aufgeführt – trotzdem deuten das Erleben von vor allem weiblichen ADHS-Betroffenen sowie die Erfahrungen von Therapeut*innen einen klaren Einfluss dieses Symptoms auf die Psychopathologie der Störung an (Corbisiero et al., 2013). So beschreibt eine ADHS-Patientin in einem Artikel ihr Ringen mit Hypersensibilität, welches sie vor der Diagnose der ADHS als ein Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung interpretierte (Graye, 2018). Sie beschreibt rasche Stimmungsschwankungen, die Überforderung mit sozialen Interaktionen und Hiebe von überwältigender Trauer; Gefühle, welche sich in validierten empirischen Untersuchungen konsistent vor allem in Patient*innen des kombinierten Typs zeigen (Grave, 2018; Corbisiero et al., 2013). Die Stimmung schwankt dabei schneller als bei affektiven Störungen. Dabei kann es sich um einen Wandel zwischen Euphorie und depressiver Verstimmung innerhalb weniger Stunden oder mehreren Stimmungswechseln innerhalb eines Tages handeln (Corbisiero et al., 2013). Dadurch fühlen sich Patient*innen schnell von ihren Gefühlen überfordert, was sich negativ auf ihre Selbstwahrnehmung auswirkt (Corbisiero et al., 2013; Ryffel-Rawak, 2017).
Die Ähnlichkeiten der ADHS und der Borderline-Persönlichkeitsstörungen fiel nicht nur nicht-diagnostizierten ADHS-Patient*innen auf; eine Mehrzahl von Studien bekräftigt die Präsenz einer Beziehung zwischen den beiden Störungsbildern (Fossati et al., 2015). Die Natur dieser Beziehung ist noch nicht bekannt, allerdings wird die Präsenz einer ADHS in der Kindheit mit einer Borderline-Störung im Erwachsenenalter in Verbindung gebracht und in gewissen Studien sogar als Prädiktor davon angesehen (Fossati et al., 2015). Die Assoziation der Störungen wurde jedoch nur bei weiblichen Patientinnen in signifikantem Masse gefunden, wodurch das Geschlecht einen wichtigen Moderator zwischen den Störungen darstellt (Fossati et al., 2015). Durch die konstante Interaktion zwischen Theorie und Empirie ergaben sich über die Jahre mehrere Konzepte und Modelle, welche in Kontrast zu der ICD und dem DSM die Präsenz einer emotionalen Komponente anerkennen. Die Entwickler der Wender Utah Rating Scale (WURS) definieren beispielsweise emotionale Dysregulation als einen zusätzlichen Symptombereich, welcher drei Subskalen enthält: Emotionale Labilität, Stressintoleranz und schwer zu kontrollierendes Temperament (Corbisiero et al., 2013). Ähnlich beinhaltet Conners’ CAARS (Conners’ Adult ADHD Rating Scales) die zwei emotionalen Symptombereiche Selbstkonzept und Impulsivität bzw. emotionale Labilität (Corbisiero et al., 2013). Des Weiteren betrachten Forschende wie Brown Emotionen als eine von sechs exekutiven Funktionen, welche durch eine ADHS beeinträchtigt werden (Brown, 1996).
Von der Gefahr, nicht gesehen zu werden
Dem Unterschied in der Symptompräsentation folgt die Gefahr, nicht gesehen zu werden – und somit auch die Gefahr, nicht verstanden zu werden. Diese Gefahr findet ihren Anfang oft in der Schulzeit, da Lehrpersonen signifikant mehr Knaben zu einer Diagnostizierung weiterleiten (Skogli et al., 2013). Dabei wird der Stress und die Symptomatik der Jungen von den Lehrer*innen häufig als höher eingestuft als die der Mädchen, obwohl der wahrgenommene Stress im Selbstbericht bei Mädchen höher ausfällt (Isaksson et al., 2020). Die Einschätzung der Lehrpersonen kontrastiert auch den Bericht der Eltern, welche die Symptomatik ihrer Töchter ebenfalls schwerwiegender einstufen (Isaksson et al., 2020). Werden betroffene Mädchen zu einem*einer Psychologen*in oder einem*einer Psychiater*in gesendet, erfolgt dies oft zu einem späteren Zeitpunkt als bei Jungen und meist aufgrund emotionaler Auffälligkeiten, anstatt in Betracht einer möglichen ADHS-Diagnose (Klefsjö et al., 2021). Oft werden diese Auffälligkeiten hierbei für Symptome einer alleinstehenden Depression oder Angststörung missinterpretiert, wenn diese zusätzlich zu einer unentdeckten ADHS vorliegen, und werden entsprechend nicht mit ADHS-Medikamenten behandelt (Quinn & Madhoo, 2014; Klefsjö et al., 2021).
Der Stress der betroffenen Mädchen und Frauen erhöht sich zusätzlich durch das fehlende Verständnis für das eigene Leiden sowie den Versuch, ihre Mängel zu kompensieren (Ryffel-Rawak, 2017). Dadurch kann es zur Entwicklung von gesundheitsschädlichen Bewältigungsstrategien wie exzessivem Alkoholkonsum kommen (Ryffel-Rawak, 2017). Doch auch Frauen mit einer Diagnose weisen verglichen mit Frauen ohne ADHS-Diagnose eine höhere Anzahl von Suizidversuchen und nicht suizidaler Selbstverletzung auf (Swanson et al., 2014). Des Weiteren präsentieren sie im Vergleich zu männlichen ADHS-Patienten eine höhere Vulnerabilität für eine Internetsucht sowie mehr Suizidgedanken (Kakuszi et al., 2018; Yen et al., 2009). Dies stellt nicht nur die Wichtigkeit einer Diagnose in den Vordergrund, sondern auch die damit verbundenen Therapiemöglichkeiten, welche das Erlernen gesünderer Bewältigungsstrategien zur Folge haben und weitere Protektivfaktoren anbieten.
«Meinen Haushalt kann ich nur mit Mühe bewältigen. Manchmal herrscht in einem Zimmer wochenlang Unordnung, bis ich plötzlich aufräumen kann. Ich werde nie fertig, auch wenn ich genügend Zeit habe.»
Was wird aus diesen Mädchen und Frauen?
Im Buch ADHS bei Frauen – den Gefühlen ausgeliefert (2017) schreibt Fachärztin für Psychologie und Psychiatrie Doris Ryffel-Rawak über die Erfahrungen und Lebensläufe diverser ADHS-Patientinnen jeden Alters. In der Schulzeit leiden die Noten unter fehlender Aufmerksamkeit; danach erfolgt der Einstieg in eine Hochschule oder in die Arbeitswelt, wobei die Anforderungen wegen Vergesslichkeit und Konzentrationsschwierigkeiten schnell Verzweiflung hervorrufen, wofür Vorgesetzte wenig Verständnis aufbringen können – es kommt zu unerwarteten Kündigungen (Ryffel-Rawak, 2017). Bei Frauen des hyperaktiven Typs kommt es nicht selten zu einer Vielzahl sexueller und/oder romantischer Beziehungen sowie Substanzmissbrauch oder Essstörungen (Ryffel-Rawak, 2017).
In ihren Dreissigern geraten die meisten Frauen zum ersten Mal in Kontakt mit Psychotherapeut*innen, da dann die Kombination von Arbeit, Kinderbetreuung und Haushaltsarbeit durch mangelnde Selbststrukturierung unmöglich scheint (Ryffel-Rawak, 2017). Die Vielzahl der Aufgaben führt zu Burnout, und auch die Beziehung zum Partner leidet (Ryffel-Rawak, 2017). In der Pension, die Kinder meist erwachsen und bereits ausgezogen, kommt es zu einer Reflexion (Ryffel-Rawak, 2017). Diese beinhaltet häufig eine Kombination der bereits genannten Probleme, kann aber auch eine erfolgreiche Bewältigung der Lebensaufgaben beinhalten (Ryffel-Rawak, 2017). Doch auch bei einer Absenz schwerwiegender ADHS-bedingter Schwierigkeiten kann die Lebenszufriedenheit unter der Störung leiden (Ryffel-Rawak, 2017). So beschreibt eine Frau des hyperaktiven Typs als Folge der Anpassung an die Gesellschaft nicht ein «so schönes und intensives Leben (…) wie sie es sich eigentlich vorgestellt hätte» gehabt zu haben (Ryffel-Rawak, 2017, S.121). Ein Leben mit ADHS kann also für Frauen viele Herausforderungen mit sich bringen, um eine Garantie des Scheiterns handelt es sich jedoch nicht. Obwohl es bei vielen Betroffenen Jahre dauert, bis sie sich ihr Leiden erklären können, finden sich Frauen jeden Alters in der Psychotherapie wieder und ermitteln auch ausserhalb der Therapie Strategien, die ihnen helfen, ihr Leben erfolgreich und mehr oder weniger zufriedenstellend zu bewältigen.