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Murder as a mirror

Was sagt die gesellschaftliche Faszination mit True Crime über uns aus?
Bilder: Andrea Bruggmann

Medieninhalte über wahre Verbrechen sind überall, doch warum schauen, lesen und hören Menschen in ihrer Freizeit so gerne von grausamen Taten? Und warum sind vor allem Frauen zu Geschichten über Mord und Vergewaltigung hingezogen?

W enn Sie auf einer Streaming-Plattform wie zum Beispiel Netflix den Begriff «True Crime» eingeben, werden Sie eine Fülle von Filmen und Serien über wahre Verbrechen finden, von Dokumentarfilmen bis zu dramatischen Hollywood-Verfilmungen. Doch bei Filmen und Serien hört es nicht auf, denn das True Crime Genre ist vielfältig. True Crime Bücher sind häufig unter den New York Times-Bestsellern zu finden (Vicary & Fraley, 2010) und Youtuber*innen rund um die Welt sprechen über serial killers, manchmal sogar, während sie sich vor der Kamera schminken oder essen (Hobbs & Hoffman, 2022). True Crime Inhalte werden ausserdem oft in der Form von Podcasts dargeboten. Auch innerhalb von diesem Medium gibt es viele Variationen, von der einfachen Berichterstattung bis zu investigativen Recherchen, wie in dem Podcast Die Nachbarn (2021), in dem die Journalistinnen Leonie Bartsch und Linn Schütze aktiv versuchen, neue Spuren in dem Kriminalfall Andreas Darsow aufzudecken.

Ob das True Crime Genre einen positiven oder negativen Einfluss auf die Gesellschaft hat und ob die Produktion und der Konsum dieser Medieninhalte überhaupt ethisch vertretbar sind, kann durchaus debattiert werden. Was allerdings weniger zur Debatte steht, ist die extreme Beliebtheit von True Crime Inhalten. Doch ist es nicht verwunderlich, dass sich Menschen mit solchen Themen auseinandersetzen möchten? Auf den ersten Blick vielleicht schon. Jedoch liefern mehrere Arbeiten plausible Erklärungen für dieses Phänomen.

Gender und Gewaltpräferenzen

Interessanterweise bestehen klare geschlechtsspezifische Unterschiede in der Art der gewalttätigen Inhalte, die konsumiert werden. Vicary und Fraley (2010) fanden heraus, dass, wenn sie die Wahl zwischen einem Buch über Krieg, einem Buch über Bandengewalt und einem über True Crime hatten, Frauen viel eher das True Crime Buch wählten. Diese waren ausserdem der Meinung, dass ihnen dieses Buch mehr gefallen würde als den Männern, wohingegen Männer erwarteten, dass ihnen Bücher über Krieg oder Bandengewalt mehr Spass machen würden als Frauen, die diese Bücher wählten (Vicarey & Fraley, 2010). Verschiedene Ansätze bieten Erklärungen für die Beliebtheit von True Crime bei Frauen an.

Keine Erfindung des 21. Jahrhunderts

Auch wenn True Crime heutzutage sehr beliebt ist, so ist es dennoch kein neues Phänomen. Bereits 1966 war das Buch In cold blood von Truman Capote, das den brutalen Mord einer vierköpfigen Familie in Kansas beschreibt, ein Bestseller (Vicary & Fraley, 2010). Zudem hatten Menschen schon im 19. Jahrhundert eine eigene Variante von True Crime Podcasts: Die sogenannten Penny Dreadfuls (McMurtry & Fowler, 2020). Letztere sind günstige und kurze Geschichten, die in den 1830er Jahren in Grossbritannien entstanden und insbesondere bei einem jungen Publikum sehr beliebt waren. Sie wurden in Serienform veröffentlicht und erschienen wöchentlich. Obwohl sie auf wahren Begebenheiten basierten, zögerten Autor*innen nicht, Geschichten zu erfinden, wenn es nicht genug echte Verbrechen gab, auf die sie zurückgreifen konnten.

Ein Relikt der Evolution

Eine mögliche Theorie, die die Anziehungskraft von True Crime erklären kann, ist die Entwicklung einer Obsession mit Mord als evolutionäre Überlebensstrategie (Buss, 2005; Vicary & Fraley, 2010). Die Idee dabei ist, dass Menschen Informationen überwachen, die für die Aufrechterhaltung ihrer Überlebens- und Fortpflanzungschancen relevant sind. Über die Motive und Methoden von Kriminellen zu lernen, könnte somit ein Mittel sein, um zu verhindern, selbst Opfer eines Verbrechens zu werden.

Im Einklang mit dieser Erklärung stellten Vicary und Fraley (2010) fest, dass Frauen im Vergleich zu Männern sich mehr zu Geschichten hingezogen fühlten, die Fluchttricks und die psychologischen Motive des Mörders enthielten und in denen die Opfer weiblich waren. Diese Eigenschaften der Geschichten würden es Frauen ermöglichen, aus den Büchern zu lernen und ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Ausserdem konsumieren Frauen, die eine grössere Angst vor Vergewaltigung haben mehr True Crime Inhalte und geben explizit an, dies zu tun, um Fluchtstrategien zu erlernen (McDonald et al., 2021). Somit scheint Selbstschutz ein wichtiges Motiv für den True Crime Medienkonsum zu sein – und zwar insbesondere bei Frauen. Doch ist dies der einzige Grund?

Durch die Brille der sogenannten uses and gratifications theory untersuchten Boling und Hull (2018) die Ziele und Motive der Hörer*innen beim Anhören von True Crime Podcasts. Insgesamt waren die drei wichtigsten Beweggründe: Unterhaltung, Bequemlichkeit und Langeweile. Die Motivation der Teilnehmenden hing ausserdem von Faktoren wie Geschlecht und Alter ab. Frauen hörten signifikant häufiger als Männer True Crime Podcasts aus Gründen der sozialen Interaktion, des Eskapismus und des Voyeurismus. Alter korrelierte signifikant mit den Beweggründen Entspannung, Erregung, Langeweile und Bequemlichkeit. Die Autor*innen der Studie merken ausserdem an, dass sich Podcasts durch ein hohes Mass an audience interactivity auszeichnen. Tatsächlich sind die Podcasts-Hörer*innen besonders aktiv: Viele recherchieren die Fälle über die Podcasts hinaus und nehmen an Online-Diskussionen teil. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Hörer*innen Podcasts auf der Grundlage ihrer Ziele und zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Wünsche auswählen. Dabei sind ihre Motive komplex und situationsabhängig.

«In a world in which women fear violence, but are culturally proscribed from showing an interest in violence, true crime books provide a secret map of the world, a how-to guide for personal survival – and a means for expressing the violent feelings that must be masked by femininity.»

Browder, 2006, S. 929

Ein unfeministisches Genre?

Für manche feministische Kritiker*innen, wie zum Beispiel Jane Caputi, ist die gesellschaftliche Faszination für Gewalt gegen Frauen und für die Männer, die sie ausüben der Ausdruck einer tiefgreifenden Misogynie: In einer patriarchalen Kultur sei der «sexual killer» der «ultimate man» (Caputi, 1987, S. 62). Nach dieser Interpretation ist die Popularität von True Crime somit ein Ausdruck eines kulturellen Hasses gegen Frauen und der Konsum solcher Inhalte als anti-feministisch zu betrachten (Browder, 2006). Für Laura Browder ist die Situation allerdings komplexer, und die Motivationen von True Crime Leser*innen können auch feministisch sein. In «Dystopian romance: True crime and the female reader» interviewt sie verschiedene Frauen und reflektiert über ihre Motive.

So können sich Frauen zum Beispiel durch True Crime in einem sicheren Rahmen mit dem Thema Gewalt auseinandersetzen, ohne dabei selber die Grenze der Gewalt überschreiten zu müssen und ohne dafür verurteilt zu werden. Sie können gleichzeitig Empathie mit den Opfern empfinden und sich mit den Kriminellen vergleichen: Wären sie selber zu solchen Taten fähig? Was unterscheidet sie von ihnen?

Die gelebten Erfahrungen von Leser*innen könnten auch ihr Verhältnis zu True Crime beeinflussen. Browder schlägt vor, dass True Crime für Frauen, die Traumata und patriarchale Gewalt erlebt und überlebt haben, eine Möglichkeit sein kann, in Geschichten, in denen die Gewalt am Ende bestraft wird, einen Sinn und ein Happy End zu finden. Dadurch werden Geschichten von Mord und Vergewaltigung paradoxerweise zu einer Art Therapie – eine Deutung, die True Crime Bücher in die Kategorie der Selbsthilfeliteratur einordnet.

Dr. Jekyll und Mr. Hyde zugleich

Die Erklärungen zur Faszination für True Crime sind komplex und scheinen sogar widersprüchlich zu sein. Einerseits wollen wir auf das Schlimmste vorbereitet sein, andererseits wollen wir einfach unterhalten werden. Mal identifizieren wir uns mit den Opfern, mal mit den Mörder*innen. Wir sehnen uns nach Gerechtigkeit und Sicherheit, aber auch nach blutigen Details von Verbrechen, die anderen passiert sind. Spiegelt dieser Widerspruch nicht die ewige Frage nach der Dualität der menschlichen Natur wider? Nach dem Kampf zwischen Gut und Böse? Zwischen Dr. Jekyll und Mr. Hyde? Letztendlich ist meiner Meinung nach die Popularität von True Crime Inhalten an sich weder gut noch schlecht, sie ist einfach menschlich. Es liegt nun an Medienschaffenden, mit Respekt und Professionalität über Kriminalfälle zu berichten, und an uns allen, True Crime verantwortungsbewusst zu betrachten.

Zum Weiterlesen

Referenzen

  • Bartsch, L., & Schütze, L. (2021). Die Nachbarn [Audio-Podcast]. AUF EX Productions.
  • Boling, K. S., & Hull, K. (2018). Undisclosed information - Serial is my favorite murder: Examining motivations in the true crime podcast audience. Journal of Radio & Audio Media, 25(1), 92-108. https://doi.org/10.1080/19376529.2017.1370714
  • Browder, L. (2006). Dystopian romance: True crime and the female reader. The Journal of Popular Culture, 39(6). https://doi.org/10.1111/j.1540-5931.2006.00328.x
  • Buss, D. M. (2005). The murderer next door: Why the mind is designed to kill. New York: Penguin.
  • Capote, T. (1965). In cold blood: A true account of a multiple murder and its consequences. New York: Random House.
  • Caputi, J. (1987). The age of sex crime. London: The Women's Press Ltd.
  • Hobbs, S., & Hoffman, M. (2022). 'True crime and...': The hybridisation of true crime narratives on YouTube. Crime Fiction Studies, 3(1), 26-41. https://doi.org/10.3366/cfs.2022.0058
  • McDonald, M. M., James, R. M., & Roberto, D. P. (2021). True crime consumption as defensive vigilance: Psychological mechanisms of a rape avoidance system. Archives of Sexual Behavior, 50, 2085-2108. https://doi.org/10.1007/s10508-021-01990-1
  • McMurtry, L., & Fowler, A. (2020). Penny dreadfuls were the true crime podcasts of their time. The Conversation. https://theconversation.com/penny-dreadfuls-were-the-true-crime-podcasts-of-their-time-150212
  • Vicary, A. M., & Fraley, R. C. (2010). Captured by true crime: Why are women drawn to tales of rape, murder, and serial killers? Social Psychological and Personality Science, 1(1), 81-86. https://doi.org/10.1177/1948550615624142