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Gastbeiträge

1500 Psychotherapeut*innen, 10'000 Therapiebedürftige

Von einem Tag auf den nächsten therapielos.
Bilder: Anonym

Der Redaktion des aware wurde vom Fachverein für Psychologie der Universität Zürich (FAPS) eine Anfrage weitergeleitet, den folgenden Text eines*r anonymen Betroffenen zu publizieren. Bis auf die Formatierung ist der Text hier unverändert abgedruckt. Geschilderte Meinungen sind jene der Person und müssen nicht mit der Meinung der aware Redaktion übereinstimmen.

12.10 – Das Beben: Der Verlust meines sicheren Hafens

1500 Psychotherapeut*innen, 10'000 Therapiebedürftige – von einem Tag auf den nächsten therapielos. Ich bin eine von diesen 10'000 Patient*innen, die ab Anfang Jahr nun plötzlich von der Krankenkasse keine Unterstützung mehr für ihre Therapie erfährt. Was das für mich bedeutet, kann man sich kaum vorstellen. Deshalb versuche ich es Ihnen zu schildern.

Vor einem Jahr hatte ich meinen Zusammenbruch – eine Erschöpfungsdepression, ein Burnout mit Folgen und einem Ausmass, das ich mir nie hätte erdenken können. Ich brauchte dringend Hilfe, sofort. Durch Therapeut*innenlisten hätte ich mich wälzen müssen, doch wie hätte das gehen sollen in einer Zeit, in der Treppengehen oder das Duschen für mich eine Höchstleistung war und ich nicht einmal mein Essen zubereiten konnte. Ich kann von Glück sprechen, wurde ich von meinem Umfeld unterstützt. Und trotz dieser Unterstützung war die Therapeut*innensuche für mich wahnsinnig anstrengend und ich wurde immer wieder von Zusammenbrüchen währenddessen heimgesucht. Mein Umfeld half mir Therapeut*innen ausfindig zu machen und unendlich viele anzuschreiben. Ich bekam jedoch nur negative Rückmeldungen. Etliche hatten keine Kapazität und Wartelisten von mindestens 3-6 Monaten. Einige mussten ihre Wartelisten sogar schliessen. So ging die Suche über mehrere Wochen und mein Zustand verschlechterte sich.

«Zum Glück fand ich dann meinen heutigen Therapeuten und ich kann nur von Glück reden, dass ich mich bei ihm sofort wohl und verstanden gefühlt habe.»

(Anonym, 2023)

Zum Glück fand ich dann meinen heutigen Therapeuten und ich kann nur von Glück reden, dass ich mich bei ihm sofort wohl und verstanden gefühlt habe. Herr Dr. phil. J. S. fing mich am tiefsten Punkt, an dem ich jemals war, auf und begann seine therapeutische Arbeit mit mir. Eine Arbeit geprägt von Tiefgang, Professionalität, pädagogischem Geschick (was ich als Lehrperson, so denke ich, zu beurteilen vermag) und einer unglaublichen Hingabe. Auf für mich unerklärliche Art und Weise hatte er ein wahnsinniges Gespür für sein Gegenüber, mich in dem Falle. Er wusste, wo ich stehe, stiess mich immer wieder zu Fortschritten an, ohne mich zu übermannen oder überfordern. Ein wahrer Balanceakt, den er äusserst gut beherrscht. Mit viel Respekt und Wertschätzung trat er mir gegenüber, analysierte mit mir meine Geschichte. Er nahm sich sogar ehrenamtlich die Zeit, meine Notizen im Vorgang zu unserem Gespräch zu lesen, die ich ihm wöchentlich zukommen liess. Dafür bin ich ihm unglaublich dankbar, denn mir fiel es schwer mündlich meinen inneren Zustand und meine Gedankengänge zu beschreiben.

Die wöchentliche Therapie gewann für mich wahnsinnig an Bedeutung. Für mich wurde die Therapie zu meinem sicheren Hafen, ein Ort an dem ich aufgefangen wurde, an dem ich sicher war. Die Therapiestunden waren für mich Momente der Auseinandersetzung, des Ordnens. In Zeiten, in denen ich das Licht am Ende des Tunnels noch lange nicht erblickte und sogar unsicher war, ob es denn ein Ende des Tunnels überhaupt geben würde, gab mir die Therapie immer wieder kleine Lichtblicke. Das Gefühl nach einer Therapiesitzung war geprägt von Leichtigkeit, Hoffnung und Mut, obwohl mir gerade während dieser der Spiegel vorgehalten wurde und die Realität zu sehen gar nicht immer so einfach war. Oft war dies der einzige Moment der Woche, in dem ich diese Gefühle erfuhr. Wahnsinnig viel haben wir besprochen, Herr J. S. kennt meine Geschichte so gut, wie kein anderer Mensch. In diesem Jahr habe ich gelernt mich zu reflektieren und analysieren und doch fällt es mir schwierig zwischen Projektionen und der Realität zu unterscheiden. Ich bin noch wackelig auf den Beinen. Für mich sind seine Einschätzungen, die Fragen und Rückmeldungen gerade heute unabdingbar.

«Eine Träne rollte mir über die Wange, gefolgt von weiteren, denn diese Nachricht hiess mit anderen Worten das Ende der Therapie für mich»

(Anonym, 2023)

Wechsel zum Anordnungsmodell

Am 1. Juli 2022 ist das Anordnungsmodell in Kraft getreten. Dieses ermöglicht psychologischen Psychotherapeutinnen mit entsprechender Zulassung ihre Leistungen selbst über die Grundversicherung abzurechnen, wenn die Behandlung ärztlich angeordnet wurde. Zuvor mussten Psychotherapeutinnen delegiert arbeiten, dass heisst, sie mussten bei einemr Psychiaterin angestellt sein, damit die Grundversicherung für die Kosten aufkam. Das Ziel dieses Modellwechsels ist, den Zugang zur Psychotherapie zu erleichtern und Versorgungslücken zu schliessen (Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen, n.d.). Allerdings weigern sich manche Krankenkassen, Leistungen von Psychotherapeutinnen in Weiterbildung über ihre Aufsichtsperson abzurechnen. Dadurch stehen Tausende von Patientinnen unter Umständen ohne Therapieplatz da und die Arbeitsplätze von Psychotherapeut*innen in Weiterbildung sind gefährdet (Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen, 2023).

Herr J. S. verkündete mir am Mittwoch die schlechte Nachricht, dass er Teil der 1500 Therapeuten sei, die ab sofort keine Unterstützung der Krankenkasse mehr erfahren dürfen. Somit bin ich eine der 10'000 Patient*innen, die durchs Raster fallen, die von heute auf Morgen wieder ohne Unterstützung dastehen. Eine Träne rollte mir über die Wange, gefolgt von weiteren, denn diese Nachricht hiess mit anderen Worten das Ende der Therapie für mich. Auch Tage danach merke ich, wie diese Nachricht mir den Boden unter den Füssen zu nehmen droht. Plötzlich schwebe ich wieder in der Unsicherheit, werde ich nun meinen sicheren Hafen verlieren? Wie geht es weiter? Woher kann ich wieder Stabilität erfahren? Werde ich überhaupt einen Psychologen finden? Wie lange muss ich darauf warten? Wie viele Stunden wird es dauern, bis dieser Therapeut mich nur annähernd so gut kennen lernt, wie Herr J. S.? Kann ich mich der Person ebenfalls so sehr öffnen? Wird es mir gelingen mich mündlich verständlich auszudrücken? Denn davon ausgehen, dass sich jemand die Zeit nehmen kann meine Notizen zu lesen, kann ich nicht.

Im letzten Jahr habe ich wahnsinnig viel gelernt und es geht mir wesentlich besser; ein Arbeitsversuch ist in vollem Gange und mein Körper erholt sich langsam immer mehr davon. Ich bin jedoch noch sehr auf die therapeutische Unterstützung angewiesen. Was wenn ich wieder einen Rückfall erlebe? Wie geht es weiter? Bis anhin ging es langsam, aber stetig bergauf. Wie wird mein Körper und mein Geist auf den Wegfall der Unterstützung reagieren?

13.2. – Das Nachbeben

Ich habe mich darum bemüht, besonders zu unsicheren Zeiten gut für mich zu Sorgen. Viel habe ich unternommen, um mir das Gefühl der Sicherheit zu ermöglichen. Rasch habe ich mich auf die Suche nach einem neuen Therapeuten / einer neuen Therapeutin gemacht, habe all die erlernten Wohlfühlprogramme ausgeübt. In einem Monat kann jedoch kaum neue Ordnung etabliert sein, vor allem nicht, wenn die Therapieplätze ausgeschöpft sind. Finanziell merke ich die Last, ich gehe trotzdem noch einige Male zu Herr J. S., bis sich eine Übergangslösung etabliert hat und doch fielen einige Sitzungen aus. Ich merkte, wie die körperlichen Erschöpfungssymptome wieder zunahmen, die verspannte Muskulatur, die nächtlichen Alpträume, die körperliche Erschöpfung, die Lärm – und Lichtempfindlichkeit, die Einschlafschwierigkeiten und zu guter Letzt sogar auch noch die Migräne.

Seit Ende Mai 2022 bin ich nach einem Jahr Migräneleiden – ein psychisch- und stressbedingtes Phänomen - aus dem Teufelskreislauf rausgekommen. Diese riesige Erleichterung kann man nicht in Worte fassen. Dieses Wochenende haben mich nun wieder 4 Migräneschübe erwischt und geschwächt. Die Angst, wieder in diesen Teufelskreislauf zu geraten ist immens. Wie geht es weiter? Woher kommt das? Ist dies vielleicht eine Folge des «Verlusts meines sicheren Hafens»? Wie es weitergeht ist unsicher. Ich will die Dinge anpacken und meinen grösstmöglichen Beitrag zu meiner gesundheitlichen Besserung beitragen. Doch merke ich, dass nicht alles in meiner Hand liegt. Dass mein Körper wieder ein Zeichen setzt, das will ich ernst nehmen. Ich weiss, was ich bräuchte: eine kontinuierliche Therapie. Jetzt stellt sich nur die Frage, ab wann und wie ich die Zeit bis dahin überbrücken kann, mit möglichst geringen Rückfällen.

Was nun mit Herrn Dr. phil. J. S.?

Ein solch engagierter, professioneller und erfahrener Therapeut wird ausgelöscht?! Er unterliegt der bürokratischen Diktatur, die besagt, er sei noch in der Weiterbildung, ihm fehle noch ein «Papierli».

Eine Konsequenz, die vor Absurdität nur so strotzt. Absolut befremdlich ist mir der Gedanke, dass einem so engagierten Therapeuten mit jahrelanger Erfahrung sein Können abgesprochen wird. Wie kann das sein, dass einer Dokumentation einer abgesessenen Weiterbildung mehr Gewicht gegeben wird, als der Expertise, als X- Stunden Erfahrung, ja sogar den ehrenamtlichen Eigenrecherchen/-weiterbildungen? Inwiefern wird seine Kompetenz als Therapeut in diesen Entschluss miteinbezogen? Es schmerzt mich zu sehen, dass die bereits erbrachten Leistungen von Leuten mit solch wichtigen Berufen in den Hintergrund rücken und anstelle dessen einem Blatt Papier so viel Bedeutung beigemessen wird.

Der schlecht durchdachte Entschluss – der Schuss geht nach hinten los

Diese skrupellose Entscheidung der Versicherungen kann ich mit bestem Willen nicht nachvollziehen. Nicht nur ist dies ein äusserst unmenschlicher, respekt- und taktloser Entschluss, auch ist er für das Gesundheitswesen und dessen langfristige Finanzierung ein Schuss nach hinten. Wir 10'000 Menschen, wir verlieren unseren sicheren Hafen, mit Rückfällen ist zu rechnen. Ich fühle mich vor den Kopf gestossen. Wir, die 10'000 Personen müssen uns nun auf die Suche nach einer neuen Therapie machen, die Behandlungsplätze sind jedoch ausgeschöpft. Lange Wartezeiten werden zu überbrücken sein. Schaffen wir diese Zeit alleine?

Wenn wir jemanden gefunden haben, müssen wir nun hoffen, dass es zwischenmenschlich passt. Und dann beginnt die Arbeit wieder von Neuem, die Erklärungen, die Schilderungen – Stunden werden in die Anamnese investiert, eine Arbeit, welche bereits einmal gemacht wurde. Stunden, die uns Patienten wenig bringen und den Versicherungen noch viel weniger, denn sie bezahlen eine Arbeit, die bereits gemacht wurde. Somit bezahlt man Therapiesitzungen doppelt; die Anamnese aus dem letzten Jahr und die diesjährige. Wertvolle Arbeit muss wiederholt werden.

Es dauert eine Weile, bis das Vertrauen in den Therapeuten etabliert ist, bis wir an den Punkt kommen, an dem ich mit meinem sehr geehrten Therapeuten bereits bin. Ich möchte es nicht dementieren; ich spüre einen inneren Widerstand. Ich sehe nicht ein, weshalb ich meine Lebensgeschichte einer neuen Person anvertrauen sollte, obgleich ich den passenden Therapeuten bereits gefunden habe. Können wir, wir 10'000 Menschen diesen Widerstand überwinden und uns öffnen?

Die oben genannten Umstände führen mindestens zu einer Stagnation oder vielleicht sogar einer Regression des gesundheitlichen Zustandes von uns Patient*innen. Je länger Krankheitsverläufe dauern, umso hartnäckiger und langwieriger gestaltet sich die Genesung. Eine Verlängerung der Krankheitsverläufe können sich die Krankenkassen umso weniger leisten. Auch der Verband der Psycholog*innen wehrt sich deshalb vehement gegen diesen Entschluss.

«Auch der Verband der Psycholog*innen wehrt sich deshalb vehement gegen diesen Entschluss»

(Anonym, 2023)

Die Rechnung geht nicht auf; was sie jetzt einzusparen denken, werden sie langfristig möglicherweise sogar als Mehrkosten haben und dies trifft dann wieder uns, das Volk, die Patient*innen, mit einer Erhöhung der Prämien. Ich hoffe die Dringlichkeit dieses Thema zu behandeln kam in diesen Zeilen zum Vorschein. Wie wird die Gesundheitsdirektion wohl agieren?

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