In den letzten Jahren hat Virtual Reality als Unterhaltungsmedium Fuss gefasst; Nutzer*innen geniessen es, sich in einer computergenerierten Wirklichkeit mit Bild und Ton auszutoben. Diese Technologie bietet nun auch der Psychologie, spezifisch der Psychotherapie, diverse neue Möglichkeiten.
«VR ermöglicht es (…), die virtuelle Umgebung als real und unvermittelt wahrzunehmen, trotz des Wissens, dass es sich um eine computergenerierte Welt handelt.»
T ransportiert in eine alternative Realität – durch das Benutzen eines VR-Headsets, auch Head-Mounted-Display (HMD) genannt oder anderen VR-Systemen, erlaubt Virtual Reality (VR) das Eintauchen in eine dreidimensionale, computergenerierte Welt, welche der echten Welt ähnlich oder weitaus verschieden sein kann (Machulska et al., 2021; Poetker, 2019). Oft wird durch VR nicht nur das passive Betrachten einer anderen Welt, sondern auch eine aktive Partizipation und Interaktion damit ermöglicht (Rueda & Lara, 2020; Poetker, 2019). Dabei betonen visuelle und auditorische Reize von dem HMD sowie additive taktile Gadgets, welche die virtuelle Manipulation von Objekten und das Aktivieren des Berührungssinnes ermöglichen, das Präsenzerleben des*der Nutzers*in (Machulska et al., 2021). Bei dem Präsenzerleben handelt es sich hierbei um den subjektiven Eindruck, sich tatsächlich in der alternativen Realität zu befinden, welcher in vielen Fällen dadurch beeinflusst wird, wie immersiv das digitale Erlebnis ist (Rueda & Lara, 2020).
Für die Psychotherapie ermöglicht dies das Erleben von individuellen, therapierelevanten Ereignissen in einem virtuellen Raum, wobei der*die Patient*in sich mit multimodalen Reizen auseinandersetzen kann, ohne von diesen Reizen im realen Leben tatsächlich konfrontiert zu werden (Machulska et al., 2021). Virtual Reality ist dadurch also für die Therapie diverser Störungsbilder vielversprechend; dieser Artikel beschränkt sich jedoch auf deren Funktionen und Vorteile für Angststörungen und Empathie-Fähigkeiten.
In einem Experiment bezüglich virtuellem Achterbahnfahren konnte ein verteiltes Netzwerk identifiziert werden, welches in das Präsenzerleben von VR-Nutzer*innen einfliesst (Jäncke, 2009). Dieses Netzwerk beinhaltet den Prämotorcortex, den superioren und den inferioren Parietalcortex, Teile des ventralen, visuellen Strangs, den dorsalen visuellen Strang, extrastriate Areale sowie Strukturen im basalen und mesiotemporalen Teil des Gehirns (Jäncke, 2009). Als erhöhte Kontrollinstanz ist der dorsolaterale Präfrontalcortex (DLPFC) tätig: mit einem erhöhten Präsenzerleben ist Hirnaktivität in dem beidseitigen DLPFC negativ korreliert (Jäncke, 2009). Daraus kann geschlossen werden, dass der DLPFC die Hirnaktivität im dorsalen, visuellen Strang herunterfährt, wodurch die virtuelle Realität der tatsächlichen Umgebung als weit entfernt angesehen wird, das Präsenzerleben dementsprechend klein ist und so keine Handlungen für die virtuelle Umgebung geplant werden (Jäncke, 2009).
«In virtuo» Exposition
Mit einer Prävalenzrate von 18.1 Prozent bei Erwachsenen gelten Angststörungen als eine der meistauftretenden psychischen Störungen (Boeldt et al., 2019). Als Behandlung dafür wird in der Psychotherapie aufgrund fundierter, hoher Behandlungseffekte oft die Expositionstherapie gewählt (Machulska et al., 2021). Die Expositionstherapie stützt sich auf die Emotional Processing Theorie, wonach an Angst geknüpfte Erinnerungen als Informationsstrukturen bezüglich Bedeutungen und Stimuli verstanden werden (Maples-Keller et al., 2017). In der Exposition sollen diese Informationsstrukturen durch das Erfahren inkompatibler Information und einer neuen, funktionaleren Beurteilung des Angstreizes verändert werden; ein Prozess, welcher in Virtual Reality durch das Präsenzerleben und die freie Gestaltung der virtuellen Umgebung gut umgesetzt werden kann (Boeldt et al., 2019). Wie in der in vivo Expositionstherapie lernt der*die Patient*in in der Virtual Reality Expositionstherapie (VRE/VRET) zuerst Techniken wie Muskelrelaxation als Coping-Strategien, und arbeitet sich danach im eigenen Tempo durch eine virtuelle Expositionshierarchie (Maples-Keller et al., 2017). Obwohl sich der Grossteil der VRE/VRET-Studien mit spezifischen Flug-, und Tierphobien auseinandersetzt, konnte auch für posttraumatische Belastungsstörungen und soziale Phobien Evidenz für eine effektive Behandlung gefunden werden (Machulska et al., 2021; Tull, 2020). Dabei belegt eine Vielzahl von Metaanalysen, dass VRE/VRET gleiche oder leicht stärkere Behandlungseffekte aufweisen als gängige in vivo Expositionstherapien, und deutet zudem an, dass diese Therapieform von Patient*innen eher akzeptiert wird, da sie als sicherer empfunden wird (Machulska et al., 2021; Maples-Keller et al., 2017). Neben dem Vorteil einer höheren Akzeptanz der Patient*innen und somit einer Verringerung des Treatment Gaps kann VRE/VRET potenziell als kostenfreundlichere Alternative zu traditionellen intensiven Angststörungstherapien fungieren und die Arbeitslast von Therapeut*innen vermindern, währenddessen der gleiche Erfolg wie bei in vivo Therapien versprochen werden kann (Boeldt et al., 2019).
Virtuelle Empathie
Eine weitere Stärke der VR-Therapie sind deren Möglichkeiten, die Empathie von Individuen zu erhöhen. Trotz den Implikationen von Empathie auf politischer und gesellschaftlicher Ebene wird das Konstrukt oft verschieden und ungenau definiert, kann aber generell in eine affektive Komponente, das Mitfühlen mit anderen Individuen, und eine kognitive Komponente, die Übernahme und das Verstehen anderer Perspektiven, unterteilt werden (Roth et al., 2016). Da das Erhöhen dieser prosozialen Fähigkeiten als allgemeine Förderung der Moralität von Individuen betrachtet wird, liegt es im Fokus der Forschung zu Moral Enhancement (Rueda & Lara, 2020). Moral Enhancement beschreibt jegliche Prozesse zur Förderung von Moralität durch Biotechnologie und beinhaltet somit auch VR-Technologien (Rueda & Lara, 2020). Wie bei der VRE/VRET geht das Virtual Reality Embodied Perspective-Taking (VREPT) davon aus, dass sich eine Verbesserung der betroffenen Fähigkeiten in einer virtuellen Umgebung mit hohem Präsenzerleben automatisch auf reale Situationen überträgt, da die Nutzer*innen alte Verhaltensmuster durch neu angeeignetes Wissen modifizieren und überschreiben (Nascivera et al., 2018; Rueda & Lara, 2020). Diese Annahme wurde durch mehrere Studien gestützt: Studien bezüglich des Mitgefühls für und der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme von Demenz- und Schizophrenie-Patient*innen weisen signifikant erhöhte Empathiewerte nach VR-Situationen auf (Ventura et al., 2020). Des Weiteren zeigt eine Studie zu Krankenpfleger*innen, dass deren Empathie gegenüber Patient*innen mit Behinderungen sowie kulturell und linguistisch diverser Patient*innen durch VREPT signifikant ansteigt (Nascivera et al., 2018). Auch bei Psychologiestudent*innen wurden nach einer virtuellen Simulation signifikant erhöhte Empathiewerte gegenüber Patient*innen mit psychotischen Symptomen gefunden, wodurch sich VREPT als vielversprechend für die Ausbildung von Psycholog*innen erweisen könnte (Nascivera et al., 2018).
Psychotherapie und Forschung profitieren
Wie bei anderen Therapieformen trägt die Motivation des*der Patient*in wesentlich zum Therapieerfolg bei (Machulska et al., 2021). Obwohl dies nur teilweise von dem*der Therapeuten*in beeinflusst werden kann, bietet die VR-Therapie vergleichsweise ein hohes Mass an Kontrolle sowie ökologischer Validität – die Möglichkeit, die Forschungsergebnisse zu generalisieren – wovon vor allem die Wirksamkeits- und Prozessforschung profitieren, aber auch die neuropsychologische Forschung generell (Bohil et al., 2011; Machulska et al., 2021). Ein weiterer Vorteil der VR-Therapie findet sich in der bereits angesprochenen Möglichkeit, die alternative Realität individuell zu gestalten und fortlaufend verändern zu können, wodurch eine hohe Anzahl von Anwendungsbereichen ermöglicht wird (Machulska et al., 2021). Auch andere Faktoren bieten der VR-Therapie Vorteile, so konnten durch das Erfassen der Hirnaktivität in der Simulation natürlicher Situationen unter anderem neue Befunde bezüglich der an sozialer Interaktion und räumlicher Kognition beteiligten Hirngebiete gewonnen werden (Bohil et al., 2011).
Trotz den vielversprechenden Befunden der VR-Therapie ist es wichtig anzumerken, dass sie relativ zu anderen Therapieformen noch in den Kinderschuhen steckt: ein Grossteil der Studien sind durch fehlende Kontrollgruppen und kleiner Stichproben nur begrenzt aussagekräftig zur Wirksamkeit der VR-Therapie (Machulska et al., 2021).