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Gehirnentwicklung bei Teenagern – oder was sie so besonders macht
Bilder: Stéphanie Loeffel

«Was gibt’s Neues?» Wohl jeder Teenager hört diese Frage täglich. Die Antwort kommt trotzig und kurz angebunden: «Nichts». Die Atmosphäre beim Abendessen? Zerstört. Launische und impulsive Reaktionen sind Begleiterscheinungen des Erwachsenwerdens – doch was passiert während der Pubertät im Gehirn eigentlich genau?

D ie Adoleszenz ist eine Zeit enormer Veränderungen, voller Risiken und Chancen, neuer Eindrücke und Erfahrungen. Während die Pubertät für die primär biologische Entwicklung steht, die weitgehend genetisch determiniert ist und mit der Erreichung der Geschlechtsreife abgeschlossen ist, ist die Adoleszenz mit Erlangen der Geschlechtsreife noch nicht beendet (Lohaus, 2018). Zu der Adoleszenz gehören neben körperlichen Veränderungen auch die Identitätsfindung, eine Integration in Gesellschaft und Kultur und eine allgemeine psychosoziale Entwicklung. Mit einer abgeschlossenen Hirnreifung gilt die Adoleszenz als beendet. Interessanterweise ist dies nur beim Menschen der Fall; bei anderen Spezies ist die Hirnentwicklung bereits gleichzeitig zum Erlangen der sexuellen Reife abgeschlossen, also in der Entwicklung deutlich früher als beim Menschen (Lohaus, 2018). Dieser Umstand verdeutlicht die Bedeutung der Gehirnentwicklung beim Menschen und deutet darauf hin, dass sich ein Jugendlicher bis zum Ende der Adoleszenz einigen Veränderungen stellen muss, wobei die Umstrukturierung des Gehirns mit verschiedensten Verhaltensweisen einhergeht, die auch für das Individuum selbst sehr verwirrend sein können. Denn mit dieser Entwicklung ist es dem Menschen möglich, sich von seinen Wurzeln zu lösen und die Welt selbst zu erkunden.

«Die Entwicklung des Gehirns erinnert während der Pubertät an eine Großbaustelle.»

Markus C. Schulte von Drach, 2018

Körperliche Veränderungen

Um die Entwicklung im Gehirn besser zu verstehen, müssen zuerst die zahlreichen Veränderungen im Körper während der Pubertät betrachtet werden. Von zentraler Bedeutung ist hier das Hypothalamus-Hypophysen-System, ein Zusammenspiel im zentralen Nervensystem, das mehrere Kaskaden von Hormonen auslösen kann (Pinel, Barnes & Pauli, 2019). Der Hypothalamus liegt im Zwischenhirn und steuert zusammen mit der Hypophyse, der Hirnanhangsdrüse, die Sekretion verschiedener Hormone. Durch die Sekretion von sogenannten Gonadotropin-Releasing Hormones (GnRH) des Hypothalamus zu Beginn der Pubertät wird die Hypophyse dazu angeregt, Gonadotropine, also Sexualhormone, auszuschütten. Somit werden ab einem Alter von etwa zwölf bis dreizehn Jahren vermehrt Testosteron, Östrogen und Gestagen ausgeschüttet, die bei den Jugendlichen geschlechtstypische körperliche und auch psychische Veränderungen auslösen (Schneider, Jacobi & Thyen, 2020). Eine bekannte Entwicklung bei Jugendlichen ist auch die Veränderung des Tag-Nacht-Rhythmus. Eine im Tagesablauf verspätete Ausschüttung des Hormons Melatonin, das den Schlaf-Wach-Rhythmus steuert, führt dazu, dass Jugendliche später müde werden und somit auch verspätet einschlafen (Lohaus, 2018). Die Konsequenz: Morgenmüdigkeit – und ein Grund, warum Teenager am Morgen gereizt sein können. Mit diesen Veränderungen sind nur einige Komponenten kurz umschrieben. Aber während der Adoleszenz ändert sich alles, das gesamte Selbstkonzept wird über den Haufen geworfen und neu arrangiert. Diejenigen, die noch nicht allzu weit davon entfernt sind, wissen wahrscheinlich noch ungefähr, wie es sich angefühlt hat – nach Chaos.

Strukturelle Veränderungen im jugendlichen Gehirn

Nicht unabhängig von hormonellen Veränderungen geschehen während der Adoleszenz auch neuroanatomische Umstrukturierungen. Grob können die neuronalen Prozesse in dieser Zeit in zwei Klassen aufgeteilt werden: die Entwicklung der grauen und der weissen Substanz.

Im Gehirn eines Jugendlichen findet sich ein Anstieg des Volumens der weissen Substanz bis zum Ende der Adoleszenz (Mills et al., 2016). Der grundlegende Prozess dahinter besteht in der sogenannten Myelinisierung der Axone von Neuronen. Neurone sind Nervenzellen, die untereinander über Synapsen kommunizieren. Dabei wird die Infor-mation über das Axon an das nächste Neuron weitergeleitet. Diese Axone werden nun bereits ab der Geburt, im Laufe der Kindheit und bis zum Ende der Adoleszenz von einer Fettschicht ummantelt, wodurch sie isoliert werden und die Informationsweiterleitung stark beschleunigt wird. Diese Fettschicht, das Myelin, lässt sich unter der sogenannten weissen Substanz zusammenfassen. Der Prozess der Myelinisierung findet aber während unterschiedlichen Zeitpunkten statt, je nachdem welche Region des Gehirns betrachtet wird. Sie beginnt im Innersten des Gehirns, im Hirnstamm, und wandert dann immer weiter Richtung Cortex, von innen nach aussen (Siegler et al., 2016). Als letztes reift also – wir erahnen es – der Frontalcortex, jener Teilbereich des Gehirns, der insbesondere in Kontrollprozesse, Planung und exekutive Funktionen eingebunden ist.

Genaueres zur Plastizität

Die Plastizität des Gehirns ist die «Fähigkeit des Gehirns, sich zu reorganisieren» (Schloffer, Prang & Frick-Salzmann, 2021, S. 279). Es gibt mehrere Formen der Plastizität. Die funktionelle Plastizität beschreibt, wie sich die Reaktion des Gehirns auf gewisse Stimuli in Abhängigkeit von Erfahrung verändert. Dabei können stärkere oder schwächere Aktivierungen in betroffenen Hirngebieten die Folge sein, zum Beispiel wenn ein Experte für die gleiche Aufgabe weniger Hirnleistung braucht als ein Laie (Jäncke, 2013). Dagegen versteht man unter der strukturellen Plastizität, wie sich die effektive Struktur des Gehirns als Resultat von dem, was wir sehen und erleben, verändern kann. Darunter fallen Veränderungen in der grauen und weissen Substanz, also zum Beispiel, wenn sich neue Synapsen an den Nervenzellen bilden. Die Plastizität des menschlichen Gehirns ist aussergewöhnlich und ermöglicht uns lebenslanges Lernen.

Gleichzeitig spielt die zweite Klasse der Veränderung eine grosse Rolle: Der Abbau der grauen Substanz bis zum Ende der Adoleszenz. Als graue Substanz werden die Zellkörper der Axone bezeichnet, unter anderem auch die Synapsen. Das Volumen der grauen Substanz ist in der Kindheit am höchsten, nimmt dann in der Adoleszenz ab und stabilisiert sich in den Zwanzigern (Mills et al., 2016). Dieser Prozess wird auch Pruning genannt und beschreibt den Abbau derjenigen Synapsen, die weniger genutzt werden und auf die das Gehirn verzichten kann (Kandel, 2018). Dies ist nicht im Sinne eines Verlusts zu betrachten, sondern stellt eine Verbesserung von bereits existierenden Netzwerken dar. Diejenigen Verbindungen, die häufig genutzt werden, verstärken sich und die wenig gebrauchten werden nach dem Prinzip «use it or lose it» abgebaut. So kann sich das jugendliche Gehirn bestens in Abhängigkeit seiner Umwelt formen und weiterentwickeln. Die späteste Stabilisation zeigt sich auch hier unter anderem im Präfrontalcortex (Keshavan et al., 2014), wobei dessen Teilbereiche entscheidend sind für die Aufmerksamkeitslenkung, Impulskontrolle, das Einschätzen von Konsequenzen und das Setzen von Prioritäten (Siegler et al., 2016).

«Adolescence is a developmental window ripe with opportunity and creativity.»

Galván, 2021, p. 843

Durch das Zusammenspiel der Veränderungen der grauen und weissen Substanz lassen sich möglicherweise einige typische Verhaltensweisen von Jugendlichen erklären. Teilweise wirken Teenager uneinsichtiger, impulsiver und verständnisloser als Kleinkinder. Dieser nichtlineare Verlauf der Entwicklung kann dadurch erklärt werden, dass die verschiedenen Hirnregionen während der Adoleszenz unterschiedliche Reifegrade aufweisen. Zum Beispiel reift das limbische System, welches unter anderem mit der Amygdala und dem Nucleus accumbens von zentraler Bedeutung für Emotions- und Belohnungsverarbeitung ist (Galván, 2021), früher als der Frontalcortex. Dieser würde jedoch die zentrale Rolle der Kontrolle und Planung einbringen (Casey et al., 2019). Die unterschiedlich schnelle Entwicklung dieser zentralen Hirnsysteme könnte erklären, weshalb Jugendliche gerade bei emotionalen Sachverhalten risikofreudig und scheinbar unbedacht handeln können. In diesem Alter verfügen sie über ein weitgehend ausgeprägtes Belohnungssystem und jagen somit dem Dopamin förmlich hinterher. Gleichzeitig fehlt jedoch die Rolle der Planung, Kontrolle und Risikoeinschätzung von Seiten des Frontalcortex, da hier die zwei genannten Prozesse – Abbau der grauen und Aufbau der weissen Substanz – als letztes abgeschlossen sind. Hier sei erwähnt, dass der Höhepunkt des Volumens der grauen Substanz bei Frauen im Vergleich zu Männern früher erreicht ist, was zu einer unterschiedlich schnellen Gehirnentwicklung zwischen den Geschlechtern führt (Vijayakumar et al., 2018).

Plastizität als Chance

Obwohl die Adoleszenz von sowohl dem Individuum als auch dem Umfeld als sehr anstrengende und stressige Zeit erlebt wird, sollte gelegentlich ein Perspektivenwechsel stattfinden. Lange wurde die Gehirnentwicklung in der Adoleszenz auch in der Wissenschaft von einer negativen Seite beleuchtet (Galván, 2021). Die Forschung fokussierte sich darauf, die impulsiven und launischen Reaktionen zu erklären, die trotzigen Antworten und das problematische Verhalten zu relativieren und das Chaos der Pubertät darzustellen. Doch lässt sich die gesamte Entwicklung auch von einer ganz anderen Seite betrachten: Die Plastizität des Gehirns in dieser Zeit ist enorm. Die Möglichkeiten, sich in Abhängigkeit von Erfahrung weiterzubilden und zu lernen, Eindrücke der Umwelt aufzunehmen und zu integrieren sind während der Adoleszenz riesig, da das Gehirn noch sehr wandelbar ist.x

Die neuronale Plastizität ist etwa bis zum sechzehnten Lebensjahr am stärksten ausgeprägt (Schloffer, Prang & Frick-Salzmann, 2021), bleibt aber während des gesamten Lebens bestehen. Vom Beginn der Pubertät bis Mitte Zwanzig zeigt das Gehirn eine aussergewöhnliche Anpassungsfähigkeit, was als enorme Chance zu betrachten ist (Galván, 2021).

Was das für Eltern bedeutet

Wie kann man nun diesen Veränderungen und deren Konsequenzen zum Beispiel als Eltern begegnen? Um auf das Eingangsbeispiel zurückzukommen: Was sagen wir nun am besten, damit wir wenigstens ein bisschen am Leben der Jugendlichen teilnehmen können? In der Literatur existieren einige Tipps, die ein solches Gespräch erleichtern können. Einer davon: Zuhören. Klingt einleuchtend, aber es steckt so einiges dahinter. Jugendliche äussern oft das Gefühl, nicht richtig verstanden zu werden und fühlen sich mit ihren Sorgen und Ängsten alleine (Lohaus, Fridrici & Domsch, 2017). Das letzte, was ein Teenager dann von Elternseite hören will: «Klar, das war bei mir in der Pubertät auch so!» Unerwünscht sind voreilige Lösungsvorschläge und unbedachte Äusserungen. Lieber – ganz im Sinne von «weniger ist mehr» – zuhören und Empathie zeigen. Als weiteren Punkt beim Thema Gespräche führen nennen Lohaus, Fridrici und Domsch (2017) sogenannte «Türöffner» und «Türschliesser». Jugendliche sind manchmal schon beim Gesprächsbeginn darauf aus, die Fragen möglichst schnell zu beantworten, damit sie danach in Ruhe gelassen werden. Vermeiden Sie also einfache Fragen, die mit einem Wort beantwortet werden können. Besser sind «Türöffner»: Offene Fragen stellen, die Interesse bekunden und den Teenagern zeigen, dass tatsächlich nach einer Meinung gefragt wird, z.B. «Wie hast du das gelöst?». Mit diesen Tipps gibt es eine Chance auf ein Gespräch. Wichtig ist nach wie vor, dass die Jugendlichen die Präsenz der Familie spüren (Kattan, 2020), trotz allem, was gerade in ihren Köpfen vorgeht. Und es hat etwas Beruhigendes, zu wissen, dass der Frontalcortex letztlich reifen wird. Und vielleicht können am Ende der Adoleszenz beide Seiten, Eltern und Heranwachsende, gemeinsam auf gewisse Verhaltensweisen zurückschauen und darüber lachen.

Zum Weiterlesen

Referenzen

  • Casey, B. J., Heller, A. S., Gee, D. G., & Cohen, A. O. (2019). Development of the emotional brain. Neuroscience Letters, 693, 29–34. https://doi.org/10.1016/j.neulet.2017.11.055
  • Drach, M. C. S. von. (2018, Januar 10). PubertätGroßbaustelle Gehirn. Süddeutsche.de. https://www.sueddeutsche.de/wissen/pubertaet-grossbaustelle-gehirn-1.1833081
  • Galván, A. (2021). Adolescent brain development and contextual influences: A decade in review. Journal of Research on Adolescence, 31(4), 843–869. https://doi.org/10.1111/jora.12687
  • Jäncke, L. (2013). Lehrbuch kognitive Neurowissenschaften (1. Aufl). Huber.
  • Kandel, E. R. (2018). The disordered mind: What unusual brains tell us about ourselves (First edition). Farrar, Straus and Giroux.
  • Kattan, C. (2020). Durch die Pubertät von A bis Z: Wie Sie Ihr Kind bestmöglich begleiten und unterstützen. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28133-5
  • Keshavan, M. S., Giedd, J., Lau, J. Y. F., Lewis, D. A., & Paus, T. (2014). Changes in the adolescent brain and the pathophysiology of psychotic disorders. The Lancet Psychiatry, 1(7), 549–558. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(14)00081-9
  • Lohaus, A. (Ed.). (2018). Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-55792-1
  • Lohaus, A., Fridrici, M., & Domsch, H. (2017). Jugendliche im Stress. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-52861-7
  • Mills, K. L., Goddings, A.-L., Herting, M. M., Meuwese, R., Blakemore, S.-J., Crone, E. A., Dahl, R. E., Güroğlu, B., Raznahan, A., Sowell, E. R., & Tamnes, C. K. (2016). Structural brain development between childhood and adulthood: Convergence across four longitudinal samples. Neuroimage, 141, 273–281. https://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2016.07.044
  • Pinel, J. P. J., Barnes, S. J., & Pauli, P. (2019). Biopsychologie (10., aktualisierte und erweiterte Auflage). Pearson.
  • Schloffer, H., Prang, E., & Frick-Salzmann, A. (Hrsg.). (2021). Gedächtnistraining: Theoretische und praktische Grundlagen. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62300-8
  • Schneider, H. J., Jacobi, N., & Thyen, J. (2020). Hormone – ihr Einfluss auf mein Leben: Wie kleine Moleküle Liebe, Gewicht, Stimmung und vieles mehr steuern. Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-58978-6
  • Siegler, R., Eisenberg, N., DeLoache, J., & Saffran, J. (2016). Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter (S. Pauen, Hrsg.). Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-47028-2
  • Vijayakumar, N., Op de Macks, Z., Shirtcliff, E. A., & Pfeifer, J. H. (2018). Puberty and the human brain: Insights into adolescent development. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 92, 417–436. https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2018.06.004