Die narrative Identität fasst zusammen, wie Menschen die Geschichte ihres Lebens erzählen. Als Teil der Persönlichkeit kann sie über die Big Five hinaus psychisches Wohlbefinden vorhersagen.
O b wir alte Fotos anschauen, mit unseren Liebsten zusammen die Zukunft ausmalen oder in einem Vorstellungsgespräch sitzen: Wir erzählen immer wieder, wie wir zu der Person wurden, die wir sind, und was wir uns für die Zukunft erhoffen. Wir erzählen uns selbst und anderen die Geschichte unseres Lebens. Aber was sagt das über uns aus? Und kann die Geschichte, die wir über die Vergangenheit erzählen, unsere Zukunft beeinflussen?
Nach McAdams (2015) bildet die narrative Identität die dritte Ebene unserer Persönlichkeit. Die erste Ebene steht in diesem Modell für die als Big Five bekannten Erlebens- und Verhaltenstendenzen, die zweite Ebene repräsentiert die motivationale Ausrichtung eines Menschen (McAdams, 2015). Anders als die ersten beiden Ebenen entwickelt sich die narrative Identität erst im Verlauf der Adoleszenz (McAdams, 2015), da sie die Fähigkeit zu autobiographical reasoning erfordert (Habermas & Silveira, 2008). Damit ist gemeint, dass Zusammenhänge zwischen Erlebtem und dem Selbst hergestellt werden: Wie haben meine Erfahrungen meine Einstellungen geprägt? Welche Themen ziehen sich wie ein roter Faden durch meine Biographie? Welche Einsichten habe ich aus einem Erlebnis gewonnen? Es sind diese Reflexionen, welche die narrative Identität vom Nacherzählen einer episodischen Erinnerung unterscheiden (Habermas & Silveira, 2008).
Auch wenn die narrative Identität eine eigene Ebene der Persönlichkeit darstellt, findet man Zusammenhänge zwischen Eigenschaften der untersuchten Erzählungen und den Big Five. So korreliert beispielsweise Offenheit für Erfahrungen mit komplexeren Erzählungen, Neurotizismus mit einem negativeren Grundton der Erzählung und Verträglichkeit mit communion, d. h. wie stark Verbundenheit mit anderen Menschen in der Erzählung thematisiert wird (McAdams 2004).
«Life inevitably includes both positive and negative experiences, so these themes reveal the narrator’s decisions about where to parse the flow of time and draw connections.»
Der Zusammenhang mit psychischem Wohlbefinden
Die angenommene Funktion der narrativen Identität ist, dass sie ein Gefühl von Einheit und Sinn stiftet (McAdams, 2001). Das legt nahe, dass Art und Inhalt der Erzählung mit dem psychischen Wohlbefinden assoziiert sind. Tatsächlich findet man, dass unterschiedliche Aspekte narrativer Identität Varianz in psychischem Wohlbefinden erklären können, welche über die von den Big Five erklärte Varianz hinausgeht (Adler et al., 2016). Insbesondere motivationale und affektive Aspekte sind – sowohl quer- als auch längsschnittlich – signifikant mit psychischem Wohlbefinden assoziiert (Adler et al., 2016; McLean et al., 2019). Dazu gehören neben der bereits erwähnten communion unter anderem agency, also das Gefühl, Einfluss auf das eigene Leben zu haben, contamination und redemption. Contamination bedeutet, dass eine Erzählung positiv beginnt und negativ endet, während bei redemption schwierige Ausgangsbedingungen in einen positiven Abschluss münden. Beispielsweise fanden Adler et al. (2015), dass Personen im mittleren Erwachsenenalter in den folgenden vier Jahren positivere Verläufe der mentalen Gesundheit aufwiesen, wenn ihre Narrative hohe Werte in agency und redemption und tiefe Werte in contamination aufwiesen (Adler et al., 2015).
Wie werden persönliche Narrative erhoben?
Als Goldstandard gilt das mündliche Life Story Interview (McAdams, 2008), das ungefähr zwei bis 3 Stunden dauert. Nach einem groben Überblick über die Kapitel des bisherigen Lebens werden systematisch verschiedene Arten von Erlebnissen abgefragt und zum Abschluss, wie die Teilnehmenden erwarten, dass sich ihr Leben weiterentwickeln wird. Viele Studien fokussieren sich aber auf ausgewählte Erlebnisse und fragen gezielt diese ab, oft auch schriftlich. Es gibt Hinweise, dass die Art der «prompts», also der Ereignisse, nach denen gefragt wird (z. B. private oder berufliche, Höhe- oder Tiefpunkte), beeinflussen, welche Zusammenhänge gefunden werden können (McLean 2020).
Die motivationalen und affektiven Aspekte einer Erzählung beziehen sich in erster Linie auf den Inhalt. Komplexer wird es, wenn man den Zusammenhang zwischen autobiographical reasoning und psychischem Wohlbefinden untersucht, da sich Erzählungen nicht nur im Ausmass der enthaltenen Reflexionen, sondern auch in den daraus gezogenen Schlussfolgerungen fundamental unterscheiden können. Beispielsweise fanden Studien, die auf growth fokussierten, also wie stark Personen persönliches Wachstum durch ein Ereignis berichteten, einen positiven Zusammenhang mit subjektivem Wohlbefinden (Lilgendahl und McAdams 2011). Andererseits hatten junge Erwachsene, die in einem eher negativen Tonfall von sich berichteten, mehr Anzeichen von Psychopathologie, wenn sie mehr Verbindungen zwischen sich und Ereignissen herstellten oder komplexere Einsichten berichteten (Banks und Salmon 2013). Zusätzlich gibt es Hinweise, dass die Art des Ereignisses (Mansfield et al. 2010) und das Alter der erzählenden Person (McLean et al. 2010) beeinflussen, welche Arten von autobiographical reasoning mit höherem Wohlbefinden einhergehen. Es braucht also eine differenzierte Betrachtung, um zu verstehen, wie autobiographical reasoning mit psychischem Wohlbefinden zusammenhängt.
Fazit
Wie wir welche Szenen aus unserem Leben erzählen, sagt also einiges über unsere Persönlichkeit aus und liefert Informationen, die man mit den gängigen Big Five nicht erfassen kann. Auf der Ebene einer Stichprobe können motivationale und affektive Aspekte narrativer Identität sowie manche Konstrukte, die in den Bereich des autobiographical reasoning fallen (Adler et al., 2016; McLean et al., 2019), vorhersagen, wer mit höherer Wahrscheinlichkeit ein besseres psychisches Wohlbefinden hat.
Ob man als Individuum den Fortgang seiner Geschichte gezielt beeinflussen kann, indem man sie anders erzählt, lässt sich aus diesen Studien nicht ableiten; das müssen Interventionsstudien klären.