Nein, unter Temperament wird nicht nur Leidenschaftlichkeit verstanden. Und zwar handelt es sich um ein jahrtausendealtes Konzept, welches das Wesen, das Gemüt oder den Charakter eines Menschen beschreibt. Inwiefern sich das Temperament von der Persönlichkeit unterscheidet, wird im folgenden Artikel behandelt.
E s mag vielleicht überraschen, aber die Viersäftelehre hat bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts Beachtung in der Persönlichkeitsforschung gefunden. Diese antike griechische Theorie geht davon aus, dass der Mensch vier Körpersäfte besitzt – gelbe Galle, schwarze Galle, Blut und Schleim – deren Konzentrationen den Gesundheitszustand einer Person bestimmen. Diese Viersäftelehre wurde von Galenos von Pergamon auf das Konzept des Temperaments (lat. temperamentum, «Mischung») ausgeweitet. Galenos führte aus, dass die Dominanz eines Körpersafts in einer von vier Temperamentarten resultiert: Die fröhlichen und aktiven Sanguiniker*innen besitzen zu viel Blut, bei den bedrückten Melancholiker*innen überwiegt schwarze Galle, während bei den wütenden Choleriker*innen gelbe Galle dominiert; Phlegmatiker*innen, die sich durch ein ruhiges, passives Temperament auszeichnen, verfügen über viel Schleim (Clark & Watson, 2021). Diese Theorie hatte weit über die Antike hinaus Bestand und beeinflusste unteranderem Kant. Der Philosoph war ebenfalls überzeugt, dass sich alle Menschen in diese vier Kategorien einteilen liessen. Der letzte einflussreiche Wissenschaftler, der darauf Bezug nahm, war schliesslich Eyseneck. Dieser verfolgte allerdings einen dimensionalen anstelle eines kategorialen Ansatzes, nach dem sich Personen auf zwei Persönlichkeitsdimensionen (später drei, erweitert um Psychotizismus) kontinuierlich anordnen lassen: Neurotizismus (unstabil – stabil) und Extraversion (introvertiert – extrovertiert). Kreuzt man die beiden Achsen, ergeben sich wiederum die vier berühmten Temperamente (siehe Abb. 1).
Auch wenn die Viersäftelehre mittlerweile nur noch in der Wissenschaftsgeschichte behandelt wird, hat der Begriff Temperament, der die Gemüts- oder Wesensart eines Menschen beschreiben soll, seine Definition weitgehend beibehalten. Die Autor*innen der New York Longitudinal Study, Stella Chess und Alexander Thomas, definieren Temperament als eine stilistische Komponente des Verhaltens (Goldsmith et al., 1987). Nach Chess und Thomas handelt es sich um die Wie-Komponente des Verhaltens. Zwei Personen mögen an eine Aufgabe mit derselben Motivation und denselben Fähigkeiten herangehen, aber das Wie, die Intensität ihres Emotionsausdrucks, ihre Beharrlichkeit oder ihr Grad an Ablenkbarkeit zeichnet ihre temperamentalen Unterschiede aus (Goldsmith et al., 1987). Allerdings gibt es keine allgemeingültige Definition des Temperaments. Goldsmiths Roundtable: What is Temperament? präsentiert vier Ansätze, darunter die bereits genannte Definition von Chess und Thomas, die durch McCall zu folgender integriert wurden: «Temperament consists of relatively consistent, basic dispositions inherent in the person that underlie and modulate the expression of activity, reactivity, emotionality, and sociability. Major elements of temperament are present early in life, and those elements are likely to be strongly influenced by biological factors. As development proceeds, the expression of temperament increasingly becomes more influenced by experience and context.»
Temperament und Persönlichkeit – Jacke wie Hose?
Nun, wieso reden Psycholog*innen von Temperament, wenn man einfach von Persönlichkeit sprechen könnte? Dabei würde man auch nicht Gefahr laufen, dass Temperament mit Hitzköpfigkeit verwechselt wird.
Persönlichkeit wird in der Persönlichkeitspsychologie als die überdauernde Konfiguration von Charakteristiken und Verhaltensmustern eines Individuums beschrieben (American Psychological Association, 2018). Um auf Chess und Thomas zurückzukommen, bildet das Temperament einen solchen stabilen Aspekt der Persönlichkeit, welcher zur Individualität einer Person beitragen kann, genauso wie Werte, Interessen und Eigenschaften (Goldsmith et al., 1987). In ihrer New York Longitudinal Study, in welcher sie Familien und Kinder unter drei Monaten über einen Zeitraum von zwölf Jahren untersuchten (Thomas & Chess, 1977), zeigten sie auf, dass bereits bei Säuglingen stabile Unterschiede in ihrem Verhaltensstil (Shiner et al., 2012) erkennbar sind. Während das eine Baby ängstlich ist und schnell weint, zeigt sich das Temperament eines anderen Kindes in Form von lebhaftem Spielen und Neugier.
Die Big Five
In der Psychologie hat sich das Fünffaktorenmodell durchgesetzt. Es nimmt an, dass sich Menschen mit fünf Persönlichkeitsdimensionen (die Big Five) beschreiben lassen: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Dieses Modell lässt sich auf die Sedimentationshypothese zurückführen. Nach ihr schlagen sich Merkmale, in denen sich Menschen unterscheiden, in der Sprache nieder. So wurden auch die fünf Persönlichkeitsdimensionen durch die Analyse des Sprachgebrauchs erarbeitet. Dieses Vorgehen liefert gut replizierbare Ergebnisse, allerdings gibt es einige kritische Stimmen bezüglich der transkulturellen Universalität. Nämlich wird der starke Fokus auf den indogermanischen Sprachraum kritisiert. Auch lassen sich nicht in allen Kulturen dieselben fünf Dimensionen wiederfinden.
Temperament zeichnet sich somit durch sein frühes Auftreten aus. Deswegen wird angenommen, dass es eine vorwiegend biologische Basis besitzt. Bei Persönlichkeit hingegen handelt es sich um ein breiteres und komplexeres Konstrukt, welches durch Erfahrung und Entwicklung heranreift. Deswegen findet Temperament seine überwiegende Anwendung in der Kindheitsforschung – nach Rothbart ist Temperament, etwas salopper als sie es sie ausdrückte, alles an Persönlichkeit, was ein Kind zu bieten hat (Goldsmith, 1987). Obwohl man bei einem Säugling zwar die emotionale Reaktion auf eine neue Situation messen und so auf stabile Unterschiede schliessen kann, wird dies einer Persönlichkeitseigenschaft wie Offenheit, welche im Erwachsenenalter viele Facetten wie Sinn für Ästhetik und Fantasie sowie Offenheit für Ideen und Werte miteinschliesst, nicht ganz gerecht.
Was das Temperament ausmacht
Die Persönlichkeitspsychologie arbeitet mit einem Fünffaktorenmodell der Persönlichkeit (siehe Kästchen), welches auf weitläufige Akzeptanz stösst. Diese Theorie ist längst in unseren Alltag durchgedrungen, wo Begriffe wie Extraversion nicht selten zu hören sind. Wenn sich das Temperament tatsächlich von der Persönlichkeit durch sein früheres Auftreten unterscheidet, sind Dimensionen zu erwarten, die sich hinreichend vom Fünffaktorenmodell abgrenzen, gleichzeitig aber ein Verständnis über die Beziehung zur Persönlichkeit ermöglichen.
«Temperament describes the initial state from which personality develops and links individual differences in behavior to underlying neural networks. Temperament and experience together ‹grow› a personality…»
Einen bedeutenden Ausgangspunkt setzten wieder Thomas und Chess in ihrer Langzeitstudie (1977). Darin identifizierten sie durch Interviews mit den Eltern der Kinder neun Temperament-Dimensionen: Aktivitätsniveau, Annäherung/Vermeidung, Intensität der Reaktionen, Reaktionsschwelle (Reizschwelle), Anpassungsfähigkeit, Rhythmizität (Regelmässigkeit), Stimmung, Persistenz der Aufmerksamkeit und Ablenkbarkeit. Mary Rothbart hat diese Kategorien etwas verfeinert. Sie postulierte drei Dimensionen, welche in der Temperamentforschung Anklang fanden (2007): Extraversion/Begeisterungsfähigkeit (anstelle von Begeisterungsfähigkeit wird auch positive Affektivität verwendet), negative Affektivität und Kontrolle. Erstere beschreibt, wie fröhlich und aktiv das Kind ist und wie gerne es stimulierende Situationen aufsucht. Negative Affektivität hingegen beschreibt, wie häufig ein Kind negative Emotionen zeigt und wie gut diese reduziert werden können. Letztere beschreibt die Fähigkeit eines Kindes, sich zu konzentrieren und kontrollieren. Gewisse Aspekte der ersten beiden Dimensionen lassen sich bereits bei Neugeborenen feststellen. Sie zeigen ab der Geburt Unterschiede in der Irritierbarkeit, Erregbarkeit und Orientierung (Rothbart et al., 2007). Die Begeisterungsfähigkeit eines Kindes drückt sich ab etwa zwei bis vier Monaten deutlicher aus, wenn Säuglinge sich in ihrem Aktivitätsniveau, positiver Affektivität und Annäherungsverhalten gegenüber Objekten zu unterscheiden beginnen. Negative Affektivität kristallisiert sich später im ersten Jahr durch den Ausdruck der Basisemotion Furcht mit der Achtmonatsangst (Angst vor Fremden) heraus. Die Ausbildung der Kontrolle ist kognitiv anspruchsvoll und Unterschiede lassen sich daher nicht vor dem zweiten Lebensjahr feststellen.
Vom Temperament zur Persönlichkeit
Nun ist zwar der Inhalt des Temperaments geklärt, aber ab wann kann man denn von Persönlichkeit sprechen? Big-Five-Fragebögen, welche Werte in den Bereichen Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus erheben, erzielen ab dem Schulalter konsistente Ergebnisse, wobei es eventuell schon im Vorschulalter möglich ist (Shiner, 2015). Sowohl im Temperament als auch in Persönlichkeitseigenschaften zeigen Menschen über die Lebensspanne hinweg stabile Werte. Wie sich aus dem Temperament nun die Persönlichkeit ergibt, beziehungsweise, ob sie sich aus dem Temperament ergibt, ist weiterhin Gegenstand von Untersuchungen.
Einen aktuellen Ansatz, der diese Beziehung erklärt, vertritt Rebecca L. Shiner (2015). Nach ihr decken Temperament und Persönlichkeit eigentlich dieselben Eigenschaften ab, nur manifestieren sich diese Eigenschaften beim Kind aufgrund des Entwicklungsstandes anders.
Womöglich liegen also hinter dem von Rothbart beschriebenen Temperament eigentlich Big-Five-Dimensionen, die entwicklungsbedingt etwas anders zu Tage treten als im Erwachsenenalter. Aus den Temperamentsdimensionen Extraversion/Begeisterungsfähigkeit und Negative Affektivität ergäbe sich naheliegenderweise Extraversion und Neurotizismus. Was diese individuellen Unterschiede im Säuglingsalter mit dem Erwachsenenalter verbindet, sind womöglich neuronale Annäherungs- und Vermeidungssysteme, welche die Motivation, Belohnungen aufzusuchen und Gefahren aus dem Weg zu gehen, steuern (Shiner, 2015). Ebenfalls naheliegend ist die Beziehung zwischen Kontrolle und Gewissenhaftigkeit, die empirisch belegt ist (Shiner, 2015). Übrig bleiben da nur die Verträglichkeit und Offenheit. Hier sind die temperamentalen Ursprünge etwas weniger deutlich. Für den verträglichen Umgang ist Selbstkontrolle eine wichtige Eigenschaft, sie bildet die Persönlichkeitseigenschaft aber nicht vollständig ab. Dazu kommen noch die Tendenz, negative und positive Emotionen in sozialen Situationen zu verspüren (Shiner, 2015). Schliesslich lässt sich Offenheit nicht wirklich einer Temperamentsdimension wie der von Rothbart zuordnen. Allerdings gibt es gewisse Zusammenhänge mit einer Facette der Temperamentsdimension Kontrolle, nämlich der Sensitivität des Kinders gegenüber sensorischer Stimulation. Diese Beziehung deckt sich gut mit der Überlegung, dass Offenheit sich als positive Auseinandersetzungen mit stimulierenden Erfahrungen äussert (Shiner, 2015).
«Even a bad map is probably better than no map.»
Damit legt Shiner dar, wie sich aus der angeborenen, temperamentalen Basis sich eine Persönlichkeit entfalten könnte. Um auf Eyseneck (2006, S. xi) zurückzukommen: «[…] evidence has been accumulating in recent years to indicate that personality has a strong biological basis... It is my impression that such a picture is indeed beginning to emerge […]». Dieses Zitat stammt aus seinem Buch The Biological Basis of Personality, das erstmals 1967 erschien. Während sich seither ein noch klareres Bild über die biologische Basis der Persönlichkeit herauskristallisiert hat, stellen die hier genannten Beziehungen zwischen Temperament und Persönlichkeit allerdings auch nur eine mögliche Orientierung für die weitere Erforschung dar: «Even a bad map is probably better than no map at all, and this book was written in order to provide such a map – as good as I could make it, but of course still very far indeed from approaching perfection…» (Eyseneck, 2006, S. xi).