Kinder psychisch erkrankter Eltern leben oft in einem Spannungsfeld aus Verantwortung, Loyalität und Überforderung. Der Roman 22 Bahnen von Caroline Wahl zeigt durch die Figur der jungen Tilda eindrücklich, welche Auswirkungen eine elterliche Erkrankung haben kann.
P sychische Erkrankungen sind weit verbreitet. In der Schweiz sind schätzungsweise über eine Million Menschen betroffen – viele davon sind Eltern (Fahrer et al., 2021). Studien zeigen, dass zwischen 52 und 65 Prozent der psychisch erkrankten Erwachsenen Kinder haben (Schneider & Margraf, 2019). Für diese Kinder bestehen zahlreiche negative Auswirkungen: unsicheres Bindungsverhalten, schlechtere schulische Leistungen, Entwicklungsverzögerungen und -störungen bis hin zu höherer Kindersterblichkeit (Fahrer et al., 2021). Insgesamt zeigen sie ein drei- bis siebenfach erhöhtes Risiko für Auffälligkeiten im Verhalten und Erleben im Vergleich zu Kindern psychisch gesunder Eltern (Wiegand-Grefe et al., 2009). Auch sind sie psychisch vulnerabler: Zwischen 30 und 60 Prozent der betroffenen Kinder entwickeln im Laufe ihres Lebens selbst eine psychische Erkrankung (Mattejat & Remschmidt, 2008). Diese Risiken sind nicht nur genetisch bedingt, sondern resultieren auch aus belastenden familiären Interaktionen, problematischen Bindungsmustern und fehlender externer Unterstützung. Ohne Hilfe bleibt die Belastung oft nicht auf eine Generation beschränkt. Fachleute sprechen von einem transgenerationalen Risiko, bei dem Kinder unbewusst dysfunktionale Muster im Umgang mit Emotionen, Konflikten und Nähe erlernen (Christiansen et al., 2019). Kinder psychisch erkrankter Eltern sind zudem einem deutlich erhöhten Risiko ausgesetzt, Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellen Missbrauch zu erleben (Mattejat & Remschmidt, 2008).

Rollenumkehrung und Verlust von Kindheit
Die Lebensrealität von Kindern mit psychisch erkrankten Eltern bleibt häufig unerkannt und tabuisiert. Im Roman 22 Bahnen beschreibt Caroline Wahl durch Tildas Perspektive, wie sich die Alkoholabhängigkeit von ihrer Mutter auf ihren Alltag auswirkt. Die Autorin gibt damit einer sonst meist überhörten Gruppe eine Stimme und macht sichtbar, wie tiefgreifend psychische Erkrankungen das Leben und die Entwicklung der Kinder beeinflussen.
Kinder und Jugendliche wie Tilda leben mit widersprüchlichen Gefühlen: tiefe Bindung und Loyalität auf der einen Seite, Angst, Wut und Enttäuschung auf der anderen. Diese Ambivalenz allein zu verarbeiten, fällt ihnen oft schwer. Oft entwickeln sie Schuldgefühle, weil sie unbewusst die Verantwortung für das emotionale Gleichgewicht in der Familie übernehmen.
Eine häufige psychosoziale Folge ist die sogenannte Parentifizierung, bei der Kinder frühzeitig erwachsene Rollen übernehmen. Sie kümmern sich um Haushalt, Geschwister und das emotionale Wohlergehen der Eltern (Jurkovic, 1997). Im Erwachsenenalter kämpfen viele dieser Kinder mit den Langzeitfolgen dieser Rollenübernahme: Beziehungsprobleme, übersteigerter Perfektionismus und ein erhöhtes Risiko für depressive Erkrankungen gehören zu den häufigsten Belastungen (Lindert et al., 2020).
Tilda ist ein typisches Beispiel: Sie sorgt für ihre kleine Schwester Ida, strukturiert den Alltag und versucht, für Stabilität zu sorgen, während die Mutter oft überfordert oder abwesend ist. Ihre 22 täglichen Bahnen im Schwimmbad symbolisieren dabei Struktur in einem ansonsten chaotischen Leben.
«Solange der Wind nachts auf mich fällt, denke ich, kann ich mich tagsüber in den Krieg da draussen stürzen. Gegen meine Mutter, gegen ihre Launen, gegen diese Kleinstadt. Und für Ida.»
Während das Zuhause für viele Kinder ein sicherer Rückzugsort ist, wird es für Tilda zur permanenten Stressquelle. Die unvorhersehbaren Stimmungen und das wechselhafte Verhalten der Mutter erzeugen ein chronisches Gefühl der Anspannung.
CHIMPs-Ansatz
Bei dem CHIMPs-Beratungsansatz (Children of MentallyIll Parents) ist ein präventives Programm für Familien mit Kindern im Alter zwischen drei und 21 Jahren. Es kombiniert diagnostische Abklärungen mit vier bis sechs strukturierten Sitzungen sowie weiteren Beratungen (im Schnitt 8–10 über sechs Monate). Die Sitzungen finden mit den Kindern, Eltern oder der ganzen Familie statt. Solche familienzentrierten Interventionen helfen, die Kommunikation zu verbessern, Rollen zu klären, emotionale Entlastung zu schaffen und die Selbstwirksamkeit der Kinder zu stärken (Wiegang-Grefe, 2011; Fahrer et al., 2021).
Präventionsansätze und Versorgungslücken
Ein Blick auf die Prävalenzen zeigt: Kinder psychisch erkrankter Eltern zählen zu einer der am stärksten gefährdeten Gruppen für die Entwicklung eigener psychischer Störungen. Präventive Interventionen sollten daher gezielt auf die besonderen Belastungen und Bedürfnisse dieser Kinder zugeschnitten sein. Behandlungen umfassen Screenings, Edukation, interfamiliäre Entlastung, Lernen des Umgangs mit Gefühlen, Ressourcenaktivierung und Therapie. Ein zentrales Problem ist, dass betroffene Kinder oft durch das Hilfesystem fallen (Schneider, 2019). Unterstützung kommt meist erst dann, wenn eine manifeste psychische Störung vorliegt oder Vernachlässigung nachgewiesen wird. Präventive, familienorientierte Angebote sind selten; dabei zeigt die Forschung, dass frühzeitige Interventionen entscheidend sind. Programme wie der CHIMPs-Ansatz setzen hier an (Wiegand-Grefe, 2011).
Studien belegen die Wirksamkeit: Eine Meta-Analyse von Siegenthaler et al. (2012) zeigt, dass effektive Präventionsprogramme sowohl edukative als auch therapeutische Elemente kombinieren müssen. Es ist relevant, dass die Kinder Wissen über die elterliche Erkrankung besitzen, verlässliche Bezugspersonen haben und auch Erfahrungen der Selbstwirksamkeit erleben können. Die Einbindung der ganzen Familie in die Prävention hilft, dysfunktionale Beziehungsmuster zu durchbrechen und schützt die Kinder auch langfristig. Laut einer Meta-Analyse von Lannes et al. (2021) reduzieren solche präventiven Massnahmen das Risiko, dass die betroffenen Kinder eine psychische Störung entwickeln, um fast 50 Prozent.
Tilda ist eine fiktive Figur – und doch steht sie stellvertretend für tausende Kinder, die im Schatten elterlicher psychischer Erkrankungen aufwachsen. Auch wenn jede Geschichte individuell ist, schafft 22 Bahnen einen wichtigen Zugang zu einem gesellschaftlich oft ausgeblendeten Thema. Um Kinder wie Tilda zu schützen, braucht es systemische Aufmerksamkeit, niederschwellige und flächendeckende Hilfsangebote, frühzeitige Unterstützung und einen offenen Umgang mit psychischer Erkrankung. Darüber hinaus ist eine stärkere institutionelle Zusammenarbeit notwendig: Fachkräfte in Schulen, im Gesundheitswesen und bei Jugendämtern müssen besser vernetzt und sensibilisiert sein. In der psychotherapeutischen Arbeit mit betroffenen Eltern sollten die Kinder stets «mitgedacht» werden (Seehausen et al., 2022). Denn nur wenn wir hinschauen, können wir auch helfen.