Magazin für Psychologie

Mitmachen
Medien

Warum Nietzsche weinte

Dichtung ist Geschichte, die hätte stattfinden können
Bilder: Janice Lienhard

Was wäre, wenn Friedrich Nietzsche bei der Entstehung der Psychotherapie im späten 19. Jahrhundert neben Figuren wie Sigmund Freud und Josef Breuer im Vordergrund gestanden hätte? Dieser Frage geht der Psychotherapeut Irvin D. Yalom in dem semi-fiktionalen Roman Und Nietzsche weinte auf die Spur.

E röffnungsszene des Romans: Die Glocken der Venediger Kirche San Salvatore schlagen neun Uhr. Der Arzt Josef Breuer wartet in dem Café Sorrento ungeduldig auf die geheimnisvolle Lou Salomé. Diese ist eine junge Unbekannte, die ihn zu einem Treffen aufgefordert hat, mit dem bescheidenen Ziel, die «Zukunft der deutschen Philosophie» zu retten (Yalom, 2006, S. 7). Sie hatte von Breuers Erfolgen in der Behandlung der Hysterie (siehe Kästchen) gehört und entschieden, Breuer sei die geeignetste Person, um ihren Freund – der kein anderer war als Friedrich Nietzsche – zu behandeln. Letzterer litt unter anderem unter seiner einseitigen Liebe zu Salomé. Sein seelisches Leid war so gross, dass sogar die Gefahr bestand, dass er Selbstmord begehen könnte. Ausserdem wurde er von starken Migräneanfällen und anderen körperlichen Beschwerden geplagt, die er bereits von verschiedenen Ärzten erfolglos behandeln liess. Da Nietzsche zu stolz sei, um um Hilfe zu bitten, sollte Breuer seine psychischen Leiden unter dem Vorwand einer rein medizinischen Behandlung therapieren. Die Anfrage war unüblich, weshalb der Arzt zunächst mit Widerstand reagierte. Doch Lou Salomé überzeugte ihn durch ihre selbstbewusste Art, weshalb sich Breuer schliesslich damit einverstanden erklärte, Nietzsche als Patient anzunehmen. Das Zusammentreffen dieser beiden Figuren wird nicht ganz wie erwartet verlaufen und viele Überraschungen werden auf dem Weg der Heilung auf Breuer und Nietzsche warten.

Den geistigen Kamin fegen

Behandlungsansätze für die Hysterie waren rar, und Breuer war einer der ersten Ärzte, der Methoden entwickelte, um dieses Störungsbild zu behandeln. Bei der Behandlung seiner Patientin Bertha Pappenheim erkannte er, dass Patient*innen durch eine Redekur geheilt werden konnten: Assoziatives Reden, um Symptome zu verarbeiten. Bertha Pappenheim nannte dieses Vorgehen «chimney-sweeping» (Yalom, 2006, S. 273). Das Aussprechen ihrer Gedanken half ihr, ihre Seele zu entlasten – es sei als ob man einen Kamin fegen würde. Über den Fall von Bertha Pappenheim berichtete Breuer gemeinsam mit Freud in Studien über Hysterie (1895), wo sie unter dem Pseudonym «Anna O.» erscheint. Dort wurde ihr Fall als der erste Behandlungserfolg der Hysterie dargestellt; heute wird diese Darstellung nüchterner betrachtet (Yalom, 2006, S. 441).

Der therapierte Therapeut

Im Kern des Romans steht ein Rollentausch zwischen Patient und Therapeut. Tatsächlich versteht Breuer schnell, dass er Nietzsche das Gefühl geben muss, die Situation zu kontrollieren, damit er sich ihm öffnet. So schlägt er vor, das hierarchische Verhältnis umzukehren: Er wäre der Patient, und Nietzsche würde ihn behandeln. Der Plan funktioniert. Nietzsche bleibt in Wien und bald führen die zwei Männer lange, hoch philosophische Gespräche miteinander. In diesem Prozess nimmt Breuers Strategem jedoch eine unerwartete Wendung: Bald spielt er nicht mehr die Rolle des Patienten, sondern wird von ihr völlig eingenommen. Er beginnt sich zu zahlreichen privaten Themen zu öffnen. Unter anderem spricht er über seine ungesunde Obsession mit seiner ehemaligen Patientin Bertha Pappenheim, seine Frustration mit seiner gescheiterten akademischen Karriere, seine Angst vor seinem sicheren bürgerlichen Leben, und sein Ressentiment gegenüber seiner Frau Mathilde. Seinerseits übernimmt Nietzsche gezielt die Rolle des Therapeuten: Er wendet die sogenannte chimney-sweeping-Methode (siehe Kästchen) an, beginnt Breuers Träume zu analysiseren, stellt herausfordernde Fragen, formuliert Thesen und gibt dem Arzt Aufgaben.

«Sie weichen immer noch meiner Frage aus. Haben Sie Ihr Leben gelebt? Oder wurden Sie von ihm gelebt? Haben Sie gewollt? Oder wurden Sie gewollt? Das Leben geliebt? Oder gereut? Das meine ich, wenn ich frage, ob Sie Ihr Leben gelebt haben.»

Nietzsche zu Breuer, in Yalom, 2006, S. 359

Die Liebe zum Schicksal

Nietzsche präsentiert Breuer immer wieder mit wichtigen Grundsätzen seiner Philosophie. Dazu sind Zitate aus seinem Werk quer durch das Buch gestreut: «Werde, der Du bist!» (S. 281), «Man liebt zuletzt seine Begierde und nicht das Begehrte» (S. 335), «Stirb zur rechten Zeit!» (S. 358). Auch Nietzsches Idee der ewigen Wiederkehr taucht auf: Breuer soll sich vorstellen, sein Leben, und alles, was es enthält, würde sich ewig wiederholen und müsste immer wieder gelebt werden. Breuer findet die Vorstellung unerträglich, für immer «in dem Gefühl zu leben, nicht gelebt zu haben, die Freiheit nie gekostet zu haben!» (S. 365). Nietzsches Antwort darauf ist simpel: Er muss fortan sein Leben so leben, dass er die Vorstellung einer ewigen Wiederkehr akzeptieren könnte.

Von Freud – seinem Freund und Kollegen – in einen Hypnosezustand versetzt, stellt sich Breuer vor, endlich die Kontrolle über sein Leben zu übernehmen, um Freiheit und Selbstbestimmung zu erlangen. In dieser Simulation verlässt er seine Frau Mathilde, lässt seine Kinder und seine medizinische Karriere zurück, packt seine Koffer, und verlässt Wien. Sein erster Stop ist Bertha in der Schweiz, im Sanatorium Bellevue. Dort angekommen, realisiert er, dass sie mit ihrem neuen Arzt das gleiche Verhaltensmuster abruft wie mit ihm, was ihn erkennen lässt, wie machtlos sie selbst über sich ist. Die Hypnose wirkte wie ein Elektroschock: Als er wieder zu Bewusstsein kommt, realisert Breuer, wie sehr die Freiheit ihn in Wahrheit erschreckt, und dass sein jetziges Leben nicht so verkehrt ist, wie zunächst angenommen. Er entdeckt seine Liebe zu Mathilde neu und schafft es, Bertha in der Vergangenheit zu lassen. Durch die Gespräche mit Nietzsche und mit Hilfe der hypnotischen Trance, findet er zurück auf seinen Weg und erkennt, dass die wahren Feinde die ganze Zeit über unsichtbar blieben: die Angst, die Zeit und der Tod. Jetzt kann er sich ihnen stellen und sein Schicksal akzeptieren – ja vielmehr sogar, es lieben.

Die Wahl der Einsamkeit

Mit der Heilung von Breuer ist nun Nietzsche an der Reihe, die Rolle des Patienten zu übernehmen. Von Breuers Mut inspiriert, sich selbst zu analysieren, tut er es ihm gleich und wagt es, sich ebenfalls zu öffnen. Er erzählt von seiner Besessenheit mit Lou Salomé – und weint. Daraufhin beichtet Breuer, von Salomé gewusst zu haben, und sogar von ihr beauftragt worden zu sein, ihm zu helfen. Doch während Breuer erkannt hat, dass weder Bertha noch Mathilde schuld an seinem Leiden waren, scheint Nietzsche bis zum Ende des Romans die starke Verbitterung gegenüber Frauen, und insbesondere gegenüber Lou Salomé, nicht ablegen zu können. Trotzdem bleibt der Dialog entscheidend. Es ist in ihm, dass die Männer bis zum Kern von Nietzsches Leiden vordringen: Einsamkeit. Weinend überwindet Nietzsche seine Blockade, und allein der Akt, über seine empfundene Einsamkeit gesprochen zu haben, löst eine «unendliche Erleichterung» in ihm aus (S. 435).

In Breuer hat Nietzsche – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – einen Freund gefunden. Trotzdem wird sich Nietzsches Lebensstil zunächst nicht ändern. Er bleibt seiner Natur und Mission treu und entscheidet sich bewusst dazu, sich der Einsamkeit sowie seinem Werke Zarathustras zu widmen. Die Wahl zu haben ist für Nietzsche der entscheidende Unterschied zu seiner vorherigen Situation. Ob die mit Breuer gewonnenen Erkenntnisse allerdings auch nachhaltig wirken werden oder ob Nietzsche bald in seine Verzweiflung zurückkehrt, erfahren die Leser*innen nicht – er macht sich noch am selben Tag auf nach Italien.

«Tiefenpsychologie und Humanistische Psychologie können als Weiterführung einer in Nietzsches Schriften auffindbaren, vorgesehenen und vorhergesehenen Alternative für die Problematik des modernen Menschen angesehen werden.»

Fischer, 1982, S. 482

Therapiebezüge

In Und Nietzsche weinte ist die Umsetzung von Nietzsches Philosophie eine Art Psychotherapie in sich selbst. Obwohl dies nicht dem entspricht, wie Nietzsche und sein Werk heute in der Gesellschaft typischerweise in Erinnerung gehalten werden, argumentieren manche Kritiker*innen, dass die Rolle Nietzsches bei der Entstehung der Psychotherapie nicht vernachlässigbar ist (Fischer, 1982). Tatsächlich bestehen mehrere Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsches Philosophie und der Psychoanalyse sowie der humanistischen Psychologie. Zum Beispiel steht sowohl bei Nietzsche wie auch bei der humanistischen Psychologie die Selbstverwirklichung im Zentrum. Viele seiner Ideen können ausserdem in Freuds Werk wiedergefunden werden (Fischer, 1982).

Ebenfalls interessant ist bei der Betrachtung des Buches die therapeutischen Interessengebiete von Yalom im Auge zu behalten. Was die verschiedenen Arten von Psychotherapie betrifft, so hat Yalom in seiner Laufbahn zwei Schwerpunkte verfolgt: Die Existenzielle Psychotherapie und Gruppenpsychotherapie (Yalom, 2001). Während die Existentielle Psychotherapie annimmt, dass Patient*innen aufgrund der Konfrontation mit den harschen Fakten des menschlichen Daseins verzweifeln, geht die Gruppenpsychotherapie davon aus, dass Patient*innen aufgrund ihrer Unfähigkeit, befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, leiden (Yalom, 2001). Bei beiden Formen spielt die Beziehung zu anderen Menschen für die Heilung eine sehr zentrale Rolle.

Hier lassen sich klare Bezüge zur Handlung von Und Nietzsche weinte herstellen. So bin ich der Meinung, dass diese zwei Erklärungen für menschliches Leid zu den jeweiligen Situationen von Breuer und Nietzsche passen. Fest in die sozialen Strukturen seiner Zeit eingebettet, hat Breuer mit existentiellen Fragen zu kämpfen: Seine Angst, sich nicht verwirklicht zu haben, vor dem Vergehen der Zeit und vor dem Tod. Erst als er sich mit Nietzsches Hilfe mit diesen Themen tatsächlich auseinandersetzt, kann er sie überwinden. Nietzsche, seinerseits, leidet stark unter seiner Unfähigkeit, Beziehungen mit anderen Menschen, speziell mit Frauen, zu knüpfen. Die Begegnung mit Breuer erlaubt es ihm, dieses Muster zu korrigieren und einen befriedigenden menschlichen Kontakt zu erfahren.

Täuschend echt, oder?

Durch die Verwendung von realen, historischen Personen und Ereignissen in Kombination mit echten Briefen aus der damaligen Zeit vermittelt der Text den Eindruck, keine Fiktion zu sein. Am Ende der Lektüre trug ich das Gefühl in mir, die Dialoge seien Wirklichkeit und musste mich daran zurückerinnern, dass Breuer und Nietzsche sich im echten Leben nie wirklich begegnet sind (Yalom, 2006, S. 439).

«Mein Roman Und Nietzsche weinte hätte tatsächlich in der Realität passiert sein können. Wenn man bedenkt, wie unwahrscheinlich die Geschichte der Psychotherapie verlief, dann hätten all die Ereignisse in diesen Roman wirklich stattfinden können, falls der historische Verlauf nur ein klein wenig von seiner Bahn ausgewichen wäre.»

Yalom, 2006, S. 448, aus The Yalom Reader, 1998

Im Nachwort zum Roman angekommen, wurde mir schnell klar, dass dieser Eindruck kein Zufall war. Dort zitiert Yalom den französischen Schriftsteller André Gide: «Geschichte ist Dichtung, die stattgefunden hat. Wohingegen Dichtung Geschichte ist, die hätte stattfinden können» (Yalom, 2006, S. 448). Er erklärt, dass dieses Zitat seine Absicht bei der Entstehung dieses Werkes beschreibt, eine Geschichte zu kreieren, die hätte passieren können. So basiert das Narrativ auf echten Gegebenheiten, die «nur herausgelöst und neu verknüpft» werden mussten (S. 439): Das seelische Leiden von Breuer und Nietzsche, die Freundschaft zwischen Breuer und Freud und die Schlüsselrollen von Bertha Pappenheim und Lou Salomé. Die Tatsache, dass in diesem Werk Fakten und Fiktion auf überzeugende Art und Weise miteinander verschmelzen, zeugt von Yaloms umfassender Recherche und tiefem Verständnis für philosophische und psychoanalytische Theorien sowie den geschichtlichen Kontext der Zeit.

Wie erstaunlich nah Yaloms Und Nietzsche weinte der Realität ist, fand man erst ein paar Jahre nach der Erstveröffentlichung des Romans heraus (Yalom, 2006): Die Forscherin Renate Müller-Buck hatte 2003 in einem Archiv einen Brief gefunden, in dem Siegfried Lipiner im Jahr 1878 versuchte, Heinrich Köselitz (beide Freunde von Nietzsche) zu überzeugen, Nietzsche nach Wien zu schicken, um von einem gewissen Josef Breuer behandelt zu werden. Da Nietzsche schon oft den Arzt gewechselt hatte und zu krank war, um sich auf die Reise zu begeben, wurde diese Idee allerdings erst über 100 Jahre später, in Yaloms Roman, zur Wirklichkeit.

Zum Weiterlesen

  • Yalom, I. D. (2006). Und Nietzsche weinte. Piper München Zürich.

Referenzen