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Hinter den Mauern

Ein Roman über Alltag, Absurditäten und Umbruch in der Psychiatrie

Die Psychiatrie der 1970er-Jahre war geprägt von Missständen und Reformbedarf. Bahman Rahnemas Irre Dramen aus der Anstalt verknüpft historische Realität und literarische Erzählung, zeigt den Widerstand gegen Veränderungen und den vorsichtigen Aufbruch zu einer humaneren Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen.

M ontagmorgen in einer forensischen Abteilung. Unruhe bei den Patient*innen, das Personal in Aufruhr: Kakowski, bekannt als Wasserwerfer, Querulant, Psychopath und «Prototyp einer abnormen Persönlichkeit», gilt als vermisst. Während inzwischen die Polizei eingeschaltet ist und jeder Winkel der Institution abgesucht wird, bereitet sich der Verschwundene im Verborgenen auf eine Aktion vor, die sich im wahrsten Sinne des Wortes «gewaschen» hat.

Über den Autor

Dr. med. Bahman Rahnema kam nach seiner Schulzeit in Teheran (Iran) fürs Medizinstudium nach Deutschland (Rahnema, 2025). Seine Facharztausbildung absolvierte er an einem Landeskrankenhaus, wo er u.a. in der forensischen Abteilung tätig war. Ab Mitte der 1980er Jahre führte Rahnema über 20 Jahre lang eine eigene Praxis als Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, bevor er als Psychotherapeut weiterarbeitete. Seit 2013 lebt er mit seiner Familie in Kalifornien.

Was sich dem Lesenden als zugespitzte Szenerie darbietet, reiht sich im Laufe des Romans Irre Dramen aus der Anstalt in eine Serie von Ereignissen ein, die für das Personal eines deutschen Landeskrankenhauses der späten 1970er Alltag bedeuten. Mittendrin Dr. Pirusmand, durch dessen Augen der Autor, Mediziner und Psychotherapeut Bahman Rahnema u.a. hinter die Mauern des «festen Haus», die forensische Abteilung, blicken lässt.

Zwischen Realität und Fiktion

Rahnemas Figuren bieten Erzählstoff im Überfluss. Dass ein Tag im festen Haus ohne die berühmten «besonderen Vorkommnisse» verdächtig erscheint, überrascht da kaum. Zwar greift der Autor reale Erfahrungen und Ereignisse auf, doch wie nah er sich tatsächlich an der Wirklichkeit bewegt, bleibt bewusst offen; Die Grenzziehung zwischen Realität und Fiktion möchte man als Leser*in aber eigentlich gar nicht so genau kennen. Zwar liest es sich vom Passfälscher F der sein Gewerbe munter weiter aus der Zelle heraus fortführt, oder dem hochpsychotischen Anwalt Omega, der in den Konflikt mit «Materie und Antimaterie» geraten ist zugegeben nicht ohne ein gewisses Schmunzeln, doch spätestens als ein folgenschwerer Mord die Institution erschüttert, mag sich dann doch eine beklemmende Ernsthaftigkeit einstellen.

«Bestehende Strukturen zu ändern, erschien mir fast unmöglich. Es war alles festgefahren, wie ein Trampelpfad, den man über die Jahre immer fester und fester getreten hatte.»

Rahnema, 2025, S. 96

Nicht zuletzt liegt über allem der Geist einer Epoche fundamentaler Veränderungen. Dr. Pirusmand, ein Arzt mit Visionen und dem festen Glauben an die noch junge Verhaltenstherapie, stösst überwiegend auf Argwohn und eine reformfeindliche Verwaltungsdirektion. Die bestehenden Strukturen zu ändern: praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. «(…) festgefahren, wie ein Trampelpfad, den man über die Jahre immer fester und fester getreten hatte» (Rahnema, 2025, S. 96), verbildlicht der Ich-Erzähler die herrschenden Einstellungen. Scheint ein erster Schritt Richtung Fortschritt getan, führen Wechsel in der Führungsspitze oder chronischer Personalmangel wieder zwei zurück. Das Bild, das Rahnema zeichnet, ist schonungslos: Überfüllte und sanierungsbedürftige Stationen, Insassen, die eher ins Gefängnis gehören, und anstelle von Psychotherapie werden die Patient*innen mit Medikamenten zugedröhnt. So gelingt Rahnema mit seinem Werk ein Zeitzeugnis der Psychiatrie im Umbruch.

Cover von «Irre Dramen aus der Anstalt» © Bild: OrellFüssli

Last der Vergangenheit

Bis in die 1970er Jahre war die Lage der Psychiatrie in Deutschland geprägt von gravierenden Missständen. Menschen mit psychischen Störungen wurden oft unter unmenschlichen Bedingungen in überfüllten und veralteten Anstalten untergebracht, die mehr Verwahrungsstätten als medizinischen Einrichtungen glichen (Häfner, 2016). Es mangelte an Fachpersonal, therapeutischen Ansätzen und einer menschenwürdigen Versorgung. Hinter vergitterten Fenstern verbrachten viele Patient*innen Jahre oder gar Jahrzehnte ihres Lebens, häufig ohne jede Aussicht auf Heilung oder Rehabilitation (Deutscher Bundestag, 1973).

Hinzu kam die Last der Vergangenheit: Während des Nationalsozialismus waren Menschen mit psychischen Störungen systematisch diskriminiert, zwangssterilisiert und in grossem Umfang ermordet worden (Kumbier & Haack, 2015). Verbrechen, die nach dem Krieg zu einem tiefen Vertrauensverlust in die Psychiatrie und zu einem langen Schweigen über die Vergangenheit führten. Dass viele weiterpraktizierende Psychiater und Pflegekräfte aktiv oder passiv in die Verbrechen verwickelt waren, erschwerte die Aufarbeitung zusätzlich (Kersting, 2003). So setzte ​eine tiefgreifende Reform in Deutschland auch erst etwa 15 Jahre später ein, als dies etwa in den angloamerikanischen Ländern der Fall war (Häfner, 2016).

Nach italienischem Vorbild

Die italienische «Basaglia-Reform» von 1978 markierte einen radikalen Bruch: Sie schrieb die Schliessung grosser psychiatrischer Kliniken vor und verlagerte die Behandlung vollständig in gemeindenahe, ambulante Strukturen (Scarcelli, 2018). Dieser kompromisslose Ansatz hatte starken Einfluss auf die Schweiz, wo – im Zusammenspiel mit der deutschen Psychiatrie-Enquête von 1975 – das Prinzip «ambulant vor stationär» bis heute prägend blieb.

Der entscheidende Wendepunkt kam mit dem Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, besser bekannt als Psychiatrie-Enquête (1971–1975). Ausgelöst durch eine Rede des CDU-Abgeordneten Walter Picard, der im Bundestag die katastrophalen Zustände öffentlich machte, nahm eine interdisziplinäre Kommission ihre Arbeit auf (Söhner et al., 2018). Ihr Ziel war es, die Missstände nicht nur schonungslos zu analysieren, sondern auch einen umfassenden Katalog an Reformempfehlungen zu erarbeiten. Diese beliefen sich u.a. auf den Aufbau gemeindenaher Versorgungssysteme mit ambulanten und komplementären Diensten, die bessere Koordination innerhalb dieser Strukturen, die Einrichtung psychiatrischer Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern sowie eine verstärkte Aus- und Weiterbildung des Fachpersonals (Deutscher Bundestag, 1975). Auch die Versorgung von Kindern und Jugendlichen sowie von Alkohol- und Suchtkranken sollte vorrangig verbessert werden, und nicht zuletzt war es der Kommission ein besonderes Anliegen, die rechtliche, finanzielle und soziale Gleichstellung von körperlich und psychisch Erkrankten zu erreichen.

Der Weg von einer Institution, die Menschen lediglich verwahrte, hin zu einer therapeutischen Disziplin schien geebnet. Und tatsächlich: Keine andere Reform weltweit wurde so umfassend und systematisch durchgeführt wie die Psychiatrie-Enquête (Häfner, 2016). Dass es dabei nicht nur um strukturelle Neuerungen ging, beschreibt einer der Kommissionsleiter, Hans Häfner: «Einer der bedeutendsten Erfolge der Enquête war jedoch immaterieller Natur: Ein tiefgreifender Mentalitätswandel bei der Mehrzahl der in der psychiatrischen Krankenversorgung Tätigen und im Zusammenhang damit ein grundlegend veränderter Umgang mit den psychisch Kranken» (Häfner, 2016, S. 149).

Dass dieser Wandel nicht über Nacht vollzogen wurde, verdeutlicht Rahnema in seinem Roman. Ihm gelingt mit Irre Dramen aus der Anstalt eine dichte Momentaufnahme einer Institution im Wandel – zwischen Resignation, Komik und Hoffnung. Trotz stilistischer Schwächen – etwas Straffung hier und da hätte dem Roman gutgetan und zuweilen weist der Text fast medizinischen Protokollcharakter auf – ist das Werk kritisch-humorvolles Zeitdokument und Reflexion über Umbruch, Widerstände und Menschlichkeit.

Zum Weiterlesen

  • Rahnema, B. (2025). Irre Dramen aus der Anstalt. Fohrmann Verlag.

Referenzen

  • Deutscher Bundestag (1973). Enquête über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland hier: Zwischenbericht der Sachverständigenkommission zur Erarbeitung der Enquête über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland (Drucksache 7/1124). https://dserver.bundestag.de/btd/07/011/0701124.pdf
  • Deutscher Bundestag (1975). Bericht und Empfehlungen der Enquête-Kommission „Psychiatrie“ (Drucksache 7/4200). https://dserver.bundestag.de/btd/07/042/0704200.pdf    
  • Häfner, H. (2016). Psychiatriereform in Deutschland. Vorgeschichte, Durchführung und Nachwirkungen der Psychiatrie-Enquête. Ein Erfahrungsbericht. Heidelberger Jahrbücher Online, 1, 119–145. https://doi.org/10.17885/heiup.hdjbo.23562 
  • Kumbier, E. & HaackE, K. (2015). Psychiatrie im Nationalsozialismus. Nervenheilkunde, 34(05), 355–359. https://doi.org/10.1055/s-0038-1627601 
  • Rahnema, B. (2025). Irre Dramen aus der Anstalt. Fohrmann Verlag. 
  • Scarcelli, R. (2018, 31. Mai). Italienische Psychiatriereform hinterlässt Spuren in der Schweiz. SWI swissinfo.ch. https://www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/basaglia-reform_italienische-psychiatriereform-hinterlaesst-spuren-in-der-schweiz/44126118 
  • Söhner, F., Fangerau, H. & Becker, T. (2017). Der Weg zur Psychiatrie-Enquete. Rekonstruktion der politischen Vorbereitung der ersten Enquetekommission des Deutschen Bundestags. Der Nervenarzt, 89(5), 570–578. https://doi.org/10.1007/s00115-017-0390-3