Viele Menschen gehen gerne ins Kunstmuseum. Kunstmuseen bieten beeindruckende Gebäude, Ruhe und Entschleunigung und stechen in unserer modernen und schnellen Welt hervor. Die Kunstpsychologie untersucht, wie Kunst auf Menschen wirkt. Dieser Artikel thematisiert, inwiefern sich Kunstexpert*innen und -laien in ihrer Kunstwahrnehmung unterscheiden.
K unsteindrücke sind besondere Erfahrungen und heben sich von alltäglichen Empfindungen ab. Manche Autor*innen bezeichnen Kunsterfahrungen sogar als luxuriöse Erfahrungen, die dem tristen, zielgerichteten Wahrnehmungsprozess im Alltag ein wenig Optimismus verleihen (Gibson, 1971; Marković, 2012).
Das Interesse am Verständnis des kognitiven Prozesses, den Kunstbetrachter*innen während der Kunstwahrnehmung durchlaufen, welche Komponenten zu diesem Prozess gehören und welche Variablen ihn beeinflussen, wuchs bereits im 19. Jahrhundert. Gustav Theodor Fechner, einer der gedanklichen Urväter der Kognitionspsychologie, untersuchte die Möglichkeiten, ästhetische Eindrücke zu messen und führte unter anderem Untersuchungen in Museen durch (Fechner, 1876). In diesem Zusammenhang ebnete er 1876 den Weg für das psychologische Untersuchungsfeld der experimentellen Ästhetik, die den Menschen und die möglichst quantitative Messung von Kunsteindrücken in den Mittelpunkt stellt(e) (Allesch, 2018). So stellte Fechner, der von Alexander Gottlieb Baumgarten, dem führenden Philosophen im Bereich der Ästhetik zu der Zeit, propagierten Ästhetik «von oben» eine Ästhetik «von unten» gegenüber (Baumgarten & Mirbach, 2007). Anstelle des Philosophierens über die Gedanken und Gefühle von Menschen während der Kunstbetrachtung «von oben» sollten Kunsteindrücke «von unten», d. h. von der Wahrnehmung des Menschen aus, erforscht und eingeordnet werden. Die Methode der Wahl war und ist bis heute – folgt man den Fechnerschen Vorstellungen – das Experiment (Kebeck & Schroll, 2011). Heute scheint die Faszination für die Erforschung künstlerischer Eindrücke immer noch vorhanden, wenn nicht sogar in einer besonderen Weise verstärkt zu sein. Moderne Messinstrumente und -methoden ermöglichen es, das Feld noch genauer zu untersuchen und eine vergleichsweise neutrale Untersuchungsumgebung im Labor zu schaffen.
Die Untersuchung der mentalen Verarbeitung von Kunst lässt sich in subjekt- und objektbezogen einteilen (Schulz & Hayn-Leichsenring, 2017). Dabei stehen entweder Kunstobjekte mit ihren einzelnen Bestandteilen oder die Kunstbetrachter*innen im Fokus. Objektbezogene Untersuchungen zur Kunst beschäftigen sich mit der Frage, ob die Variation einzelner Komponenten oder Merkmale eines Kunstobjekts zu konkreten Veränderungen im Kunsturteil von Betrachter*innen führt. Konstrukte wie Symmetrie/Asymmetrie (Gartus et al., 2020), Komplexität (Berlyne, 1971; Reber et al., 2004) oder die Untersuchung von manipulierten Kunstwerken im Vergleich zum Original (Pazzaglia et al., 2020) sind Beispiele für einen objektbezogenen Untersuchungsfokus.
Subjektbezogene Untersuchungen hingegen konzentrieren sich auf die Kunstbetrachter*innen und ihre Eigenschaften. Es ist offenkundig, dass Kunstbetrachter*innen eine breite Palette an individuellen Voraussetzungen mitbringen. Faktoren wie Alter, Geschlecht, vorherige Erfahrung mit Kunst, Stimmung zum Zeitpunkt der Messung und Persönlichkeitsmerkmale können erheblich variieren und somit die Art und Weise beeinflussen, wie Kunstobjekte auf die Betrachter*innen wirken (Leder et al., 2013).
Definition Kunstexpert*innen und Kunstlaien
Vielleicht fällt dir bereits beim Lesen auf, dass es schwer ist, angemessene Definitionen für Kunstexpert*innen und Kunstlaien zu finden. Ab wann ist jemand künstlerisch versiert? Was macht die Expert*innen zu Expert*innen? Fragt man Menschen direkt, ob sie sich selbst für erfahren halten, oder nutzt man Informationen zu ihrer Ausbildung etc., um die Kunstexpertise einzuschätzen? Darauf gibt es, wie so oft bei derlei definitorischen Fragen in der Psychologie, keine eindeutige Antwort. Wichtig bleibt, dass bei jedem Experiment, das wir lesen, stets ein genaues Auge darauf geworfen werden sollte, wer unter welchen Bedingungen untersucht wurde und wie o.g. Einteilung getroffen wurde.
Insbesondere Kunstexpertise wird häufig als Variable im Zusammenhang mit der Bildung von Kunsturteilen untersucht. Ob eine Person Kunstexpertise in die Beurteilung eines Kunstwerkes einbringt oder nicht hat einen erheblichen Einfluss auf ihre Motivation, ein Kunstobjekt zu beurteilen und darauf, wie sie ein Kunstwerk analysiert und beurteilt (Hekkert & Van Wieringen, 1996; Smith & DeCoster, 2000; Strack & Deutsch, 2004). In zahlreichen Studien zu Kunsteindrücken werden sogenannte Kunstexpert*innen und Kunstlaien, d. h. Personen mit mehr oder weniger Erfahrung und Fachwissen im Bereich Kunst, einbezogen. Kunstexpert*innen weisen bei der Bewertung von Kunstobjekten offenbar einen selektiveren Bewertungsprozess auf als Kunstlaien (Kirk et al., 2011). Des Weiteren scheinen Kunstexpert*innen Kunstwerke eher aufgrund von strukturellen Merkmalen zu beschreiben und weniger aufgrund affektiver persönlicher Eindrücke (van Paasschen et al., 2015) und zeigen bei der Bewertung andere emotionale Reaktionen als Kunstlaien (Locher et al., 2001). Selbst bei der Untersuchung der Augenbewegungen von Kunstexpert*innen und Kunstlaien zeigen sich Unterschiede (Pihko et al., 2011). Es scheint nicht zu überraschen, dass Kunstexpert*innen Kunst generell interessanter finden als Kunstlaien (Silvia, 2006). Dementsprechend zeigen Kunstexpert*innen bei der Verarbeitung von Kunstobjekten eine höhere Tendenz zum Erforschen oder zur Neugierde und sogar eine veränderte elektrokortikale Aktivität beim Betrachten von Kunst im Vergleich zu Kunstlaien (Pang et al., 2013). Schliesslich sind Kunstexpert*innen mehr an den formalen Aspekten eines Kunstwerkes interessiert als Kunstlaien (Parsons, 1987), indem sie ihr Vorwissen konstruktiv einbeziehen können (Leder, 2013).
«Ich schicke voraus, dass ich kein Kunstkenner bin, sondern Laie. Ich habe oft bemerkt, dass mich der Inhalt eines Kunstwerkes stärker anzieht als dessen formale und technische Eigenschaften, auf welche doch der Künstler in erster Linie Wert legt. Für viele Mittel und manche Wirkungen der Kunst fehlt mir eigentlich das richtige Verständnis.»
In seinem Aufsatz Moses und Michelangelo (Freud, 1914) befasst sich Sigmund Freud mit der Tatsache, dass er ein Kunstlaie sei (ob das tatsächlich stimmt, sei eine Aufgabe zum Nachlesen). Wie bereits erwähnt, gibt es in der Literatur Belege dafür, dass sich Kunstlaien mehr auf den Inhalt von Kunst als auf die Formalitäten eines Gemäldes zu konzentrieren scheinen (Schulz & Hayn-Leichsenring, 2017). Diese Annahme scheint auf den ersten Blick nachvollziehbar und spiegelt gleichzeitig eine wesentliche Unterscheidung im Prozess der Kunsturteilbildung wider. Es ist eine in der aktuellen Forschung gängige Annahme, dass es in Bezug auf Kunst ein eher subjektives Urteil und ein eher objektives Urteil gibt. Im Fall eines subjektiven Kunsturteils, beispielsweise bei der Betrachtung eines Porträts, neigen die Betrachter*innen dazu, sich mehr auf die dargestellte Person zu konzentrieren. Auf der anderen Seite liegt der Fokus beim objektiven Kunsturteil eher auf Formalitäten, wie dem Stil des Malers oder der Farbgebung.
Das Modell der ästhetischen Erfahrung (Leder et al., 2004)
Das Modell der ästhetischen Erfahrung von Leder und Kolleg*innen wird in der ästhetischen Erforschung von Kunstwerken häufig herangezogen. In dem Modell (siehe Abbildung 1) stellen Leder und Kolleg*innen den mentalen Kunstverarbeitungsprozess mit seinen einzelnen Verarbeitungsstufen dar, den Individuen bei der Betrachtung von Kunst durchlaufen.
Interessant ist, dass sich das hierarchisch aufgebaute Modell in zwei Hauptteile gliedern lässt: den perzeptiven (nicht-sinnlichen/automatischen) und den kognitiven (sinnlichen/bewussten) Teil. Der Informationsfluss wird durch die Pfeile und Rückkopplungsschleifen zwischen den Verarbeitungsstufen veranschaulicht. Auch wenn eine hierarchische Verarbeitung beschrieben wird, ist es möglich, von einer Stufe zur anderen zurückzufallen oder aufgrund einer Rückkopplungsschleife länger auf bestimmten Stufen zu verweilen.
Ästhetisches Urteil
Wenn Personen um ein ästhetisches Urteil gebeten werden, durchlaufen sie zunächst die Verarbeitungsstufen der Wahrnehmungsanalyse und der impliziten Gedächtnisintegration. Beide Verarbeitungsstufen laufen automatisch, unbewusst und unter Hinzunahme geringer kognitiver Kapazität ab. Nachdem der erste Eindruck entstanden ist, erfolgt der Übergang zu den Stufen der mentalen Verarbeitung, die «rechenintensiver» sind, d. h. einen höheren kognitiven Aufwand erfordern und dem Bewusstsein zugänglich sind. Mit Erreichen der Verarbeitungsstufe der expliziten Klassifikation unterscheiden sich Kunstexpert*innen und Laien in ihrer ästhetischen Urteilsbildung. Kunstexpert*innen stützen ihr ästhetisches Urteil in erster Linie auf den Stil und die Komposition eines Kunstwerks, weil sie dazu schlichtweg eher in der Lage sind. Sie verfügen über das formale Wissen, ein Kunstwerk anhand «objektiver» Kriterien (z. B. Kunstepoche, Maler, Pinselstrich) zu bewerten. Da Kunstlaien dies in der Regel nicht können, müssen sie andere Kriterien heranziehen. In diesem Fall greift der Kunstlaie auf seine eigene Erfahrung zurück und nutzt «subjektiv» angelegte Kriterien, um sich ein ästhetisches Urteil zu bilden. Auf diese Weise lassen Kunstlaien, die – zumindest im Vergleich zu den Kunstexpert*innen – über wenig Fachwissen verfügen, subjektive Eindrücke in ihr ästhetisches Urteil mit einfliessen.
Ästhetische Emotionen
Wie Leder und Kolleg*innen in ihrem Modell aufzeigen, beeinflusst ein bestimmter affektiver Zustand die Betrachter*innen eines Kunstobjekts während des gesamten Betrachtungsprozesses. Fraglich bleibt, wie uninteressiert oder nüchtern das ästhetische Urteil (auch von sogenannten Kunstexpert*innen) tatsächlich gebildet wird (Kant, 1790/2010). Neben dem nüchternen Teil des ästhetischen Urteils, den ein*e Kunstexpert*in zu geben vermag, hat Kunstbetrachtung auch etwas Emotionales, ein Momentum, das die Spannung während des Prozesses auflöst und Kunstexpert*innen eine gewisse Befriedigung verschafft, wenn sie zum Beispiel die Mehrdeutigkeit eines Porträts auflösen.
Ob besonders kunsterfahren oder nicht, es bleibt festzuhalten, dass effektive Kunstbetrachtung immer mit einer gewissen kognitiven Anstrengung einhergeht. Wünschen sich Kunstlaien (wenn auch Kunstinteressierte!), zu denen du dich als Leser*in und ich mich als Autorin dieses Artikels ggf. gemeinsam zählen, intensivere Kunsterlebnisse zu haben, geht dem ein intensiver Vorbereitungs- und Verarbeitungsprozess voran. Dieser erfordert Zeit und Ruhe. Wenn wir uns diese nehmen, werden wir mit neuen Eindrücken und Emotionen bei der Kunstbetrachtung belohnt.