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Forschung

Einblick in das Gehirn von Menschen im Autismus-Spektrum

Gemeinsamkeiten und geschlechtsspezifische Herausforderungen bezüglich der Diagnostik der Autismus-Spektrum Störung
Bilder: Jasmina Brunner

Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) wird häufiger bei Jungen diagnostiziert als bei Mädchen. Doch die Realität ist deutlich komplexer: Bildgebende Studien zeigen zwar Ähnlichkeiten in der Neuroanatomie zwischen den Geschlechtern, dennoch wird ASS bei autistischen Mädchen oft übersehen.

D ie weltweite Prävalenz der ASS liegt bei etwa einem Prozent (Napolitano et al., 2022). Im DSM-5 wird ein Geschlechterverhältnis von 4:1 zugunsten von Jungen angegeben, doch dieses Verhältnis wird zunehmend hinterfragt. So schätzen Loomes et al. (2017) unter Berücksichtigung der methodischen Qualität der Studien das tatsächliche Verhältnis bei weniger als 3,5:1. Solche Diskrepanzen verdeutlichen, dass weitere Forschung notwendig ist, um die Ursachen dieser Unterschiede zu verstehen.

Die Autismus-Spektrum Störung (ASS)

Nach dem DSM-5 ist die ASS gekennzeichnet durch Beeinträchtigungen in sozialen Interaktionen und Kommunikation (Falkai et al., 2018). Zusätzlich zeigen sich repetitive und eingeschränkte Verhaltensmuster, spezifische Interessen oder Aktivitäten sowie eine Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize. Etwa 70 Prozent der Personen mit ASS entwickeln zusätzlich eine weitere psychische Störung wie Depressionen und Angststörungen. Entwicklungsverzögerungen werden häufig erstmals im zweiten Lebensjahr erkannt. Im weiteren Lebensverlauf kann sich die Symptomatik verbessern, insbesondere bei Personen mit guten sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten. Neben dem Schweregrad der Störung spielen sowohl Umwelt- als auch genetische Faktoren eine Rolle. So sind etwa 15 Prozent der Diagnosen mit einer bereits bekannten genetischen Mutation assoziiert. Zwillingsstudien schätzen die Heritabilität von ASS auf 30 bis über 90 Prozent.

Dass die Geschlechtsdifferenz möglicherweise überschätzt wird, spricht dafür, dass ASS nicht grundsätzlich ein männliches Phänomen ist, sondern auch bei Mädchen ASS in ähnlicher Häufigkeit vorkommen könnte. Eine Theorie, die zur Ätiologie eine Erklärung liefert, ist die «Extreme Male Brain»-Theorie (Baron-Cohen et al., 2005). Diese besagt, dass autistische Gehirnstrukturen einer extremen Ausprägung männlicher Neurophänotypen ähneln.

Die Neuroanatomie bestätigt grösstenteils die «Extreme Male Brain»-Theorie (Baron-Cohen et al., 2005). Die Symptomatik der ASS ist teilweise auf eine verringerte Konnektivität zwischen den beiden Hemisphären zurückzuführen (Baron-Cohen et al., 2005). Insbesondere das reduzierte Corpus callosum wird mit einer geringeren Fähigkeit zur Empathie in Verbindung gebracht, welche bei ASS-Betroffenen häufig auftritt. Gleichzeitig weisen autistische Kinder eine Vergrösserung der Grosshirnrinde auf, bedingt durch eine erhöhte Menge weisser Substanz im Vergleich zur grauen Substanz. Diese lokale Konnektivität kann unter anderem die ausgeprägte Systematisierung – also die Fähigkeit, Regeln zu erschliessen, Muster zu identifizieren und Systeme nach festen Strukturen zu ordnen. Zudem könnte sie auch die spezifischen, stark fokussierten Interessen begünstigen (Baron-Cohen et al., 2005).

Aktuelle Studien, wie die von Floris et al., (2023) und van Eijk (2021) bestätigen die Tendenz zu einer Verschiebung der Neuroanatomie in Richtung eines extremeren männlichen Neurophänotyps bei ASS-Betroffenen. Dennoch ist hervorzuheben, dass ASS ein heterogenes Konstrukt ist und nicht alle autistischen Personen ein «extrem männliches» Gehirnprofil aufweisen (Floris et al., 2023). Es handelt sich jedoch um eine allgemeine Tendenz. Allerdings wirft diese neuroanatomische Gemeinsamkeit zwischen den Geschlechtern die Frage auf, warum autistische Mädchen dennoch so häufig unentdeckt bleiben (Napolitano et al., 2022).

Herausforderungen in der Diagnostik

Die Tatsache, dass autistische Mädchen häufig übersehen werden, hat mehrere Gründe (Giarelli et al., 2010; Napolitano et al., 2022). Erstens neigen Mädchen dazu, mehr internalisierende Verhaltensweisen zu zeigen, die weniger auffällig sind und damit ASS schwerer zu diagnostizieren ist. Zweitens basieren viele Diagnoseinstrumente auf Verhaltensmustern, die häufiger bei Jungen auftreten. Während Jungen oft stereotype Interessen wie Videospiele oder Spielzeug auf Rädern entwickeln, sind die Interessen der Mädchen eher unspezifisch und konzentrieren sich zum Beispiel auf Sticker oder Tiere.

Ein weiterer Aspekt ist das sogenannte Camouflaging: Mädchen und Frauen mit ASS nutzen häufiger Strategien, um ihre Symptome zu verbergen und sozial kompetenter zu wirken (Wood-Downie et al., 2021). Sie zeigen grössere soziale Motivation, Freundschaften zu schliessen, mehr Reziprozität und pragmatischere Kommunikationsstrategien als autistische Jungen oder Männer.

«Camouflaging, defined as strategies used to appear less autistic in social interactions, is argued to be a key feature of the female autistic phenotype.»

Wood-Downie et al., 2021, S. 1

Auch das Alter spielt eine Rolle (Napolitano et al., 2022). Vor dem vierten Lebensjahr zeigen Jungen und Mädchen kaum Unterschiede in der Symptomatik. Ab sechs Jahren werden jedoch Unterschiede deutlich: Jungen entwickeln häufiger stereotypische Interessen, während die Interessen von Mädchen breiter gestreut und weniger auffällig sind. Im Erwachsenenalter zeigen autistische Frauen beispielsweise eine ausgeprägtere Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize als Männer mit ASS.

Die geschlechtsspezifischen Phänotypen von ASS macht es notwendig, diese Unterschiede besser zu verstehen (Napolitano et al., 2022). Neben der «Extreme Male Brain»-Theorie liefern Ansätze wie der «Female Protective Effect» und das Konzept des «Female Autism Phenotype» wertvolle Erklärungsversuche für das Phänomen (Napolitano et al., 2022). Zukünftige Forschung sollte darauf abzielen, diese Theorien zu testen und diagnostische Methoden zu entwickeln, die geschlechtsspezifische Unterschiede besser berücksichtigen.

Zum Weiterlesen

  • Zhang, Y., Li, N., Li, C., Zhang, Z., Teng, H., Wang, Y., Zhao, T., Shi, L., Zhang, K., Xia, K., Li, J., & Sun, Z. (2020). Genetic Evidence of Gender Difference in Autism Spectrum Disorder Supports the Female-Protective Effect. Translational Psychiatry, 10(1), 4. https://doi.org/10.1038/s41398-020-0699-8 
  • Hull, L., Petrides, K. V., & Mandy, W. (2020). The Female Autism Phenotype and Camouflaging: A Narrative Review. Review Journal of Autism and Developmental Disorders, 7(4), 306–317. https://doi.org/10.1007/s40489-020-00197-9

Referenzen

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    https://doi.org/10.1126/science.1115455
  • Falkai, P., Wittchen, H.-U., Döpfner, M., Gaebel, W., Maier, W., Rief, W., Sass, H., & Zaudig, M. (2018). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5 (2. korrigierte Auflage). Hogrefe. https://www.hogrefe.com/ch/shop/diagnostisches-und-statistisches-manual-psychischer-stoerungen-dsm-5r.html
  • Floris, D. L., Peng, H., Warrier, V., Lombardo, M. V., Pretzsch, C. M., Moreau, C., Tsompanidis, A., Gong, W., Mennes, M., Llera, A., Van Rooij, D., Oldehinkel, M., Forde, N. J., Charman, T., Tillmann, J., Banaschewski, T., Moessnang, C., Durston, S., Holt, R. J., … the EU-AIMS LEAP Group. (2023). The Link Between Autism and Sex-Related Neuroanatomy, and Associated Cognition and Gene Expression. American Journal of Psychiatry, 180(1), 50–64. https://doi.org/10.1176/appi.ajp.20220194
  • Giarelli, E., Wiggins, L. D., Rice, C. E., Levy, S. E., Kirby, R. S., Pinto-Martin, J., & Mandell, D. (2010). Sex Differences in the Evaluation and Diagnosis of Autism Spectrum Disorders among Children. Disability and Health Journal, 3(2), 107–116. https://doi.org/10.1016/j.dhjo.2009.07.001
  • Loomes, R., Hull, L., & Mandy, W. P. L. (2017). What Is the Male-to-Female Ratio in Autism Spectrum Disorder? A Systematic Review and Meta-Analysis. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 56(6), 466–474. https://doi.org/10.1016/j.jaac.2017.03.013
  • Napolitano, A., Schiavi, S., La Rosa, P., Rossi-Espagnet, M. C., Petrillo, S., Bottino, F., Tagliente, E., Longo, D., Lupi, E., Casula, L., Valeri, G., Piemonte, F., Trezza, V., & Vicari, S. (2022). Sex Differences in Autism Spectrum Disorder: Diagnostic, Neurobiological, and Behavioral Features. Frontiers in Psychiatry, 13, 889636. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2022.889636
  • van Eijk, L., & Zietsch, B. P. (2021). Testing the Extreme Male Brain Hypothesis: Is Autism Spectrum Disorder Associated with a More Male-Typical Brain? Autism research : official journal of the International Society for Autism Research, 14(8), 1597–1608. https://doi.org/10.1002/aur.2537
  • Wood-Downie, H., Wong, B., Kovshoff, H., Mandy, W., Hull, L., & Hadwin, J. A. (2021). Sex/Gender Differences in Camouflaging in Children and Adolescents with Autism. Journal of Autism and Developmental Disorders, 51(4), 1353–1364. https://doi.org/10.1007/s10803-020-04615-z