Die Justiz arbeitet mit einer Vielzahl rechtlicher Konstrukte, die historisch gewachsen sind. In diesem Artikel wird diskutiert, inwiefern solche Konstrukte mit den methodischen Standards der Psychologie kompatibel sind und ob dadurch das in Art. 8 BV verankerte Rechtsgleichheitsprinzip tangiert wird.
D ie Jurisprudenz, also die Justizwissenschaft, sowie die ausübende Justiz haben im Laufe der Zeit eine Mannigfaltigkeit an phänomenologischen Konstrukten entwickelt, um den komplexen Prozessen der Rechtsprechung möglichst nuanciert gerecht werden zu können. Das moderne Rechtswesen ist jedoch deutlich älter ist als unsere Fertigkeiten, phänomenologische Konstrukte nach wissenschaftlichen Methoden und Qualitätsmerkmalen tatsächlich fassbar zu machen. Das kann dazu führen, dass einige der zwar juristisch sinnvollen Rechtskonzeptionen weniger sinnvoll sind, wenn man sie mit den tatsächlichen Vorgängen in der menschlichen Psyche abgleicht. Beispielsweise wurde das erste ZGB bereits von der Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Jahre (1907) veröffentlicht, während sehr basale statistische Methoden wie der p-Wert (Fisher, 1922), der alleine natürlich noch nicht der Erfassungskomplexität dieser Konstrukte gerecht wird, erst später relevant wurden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie juristische Konstrukte mit empirischen Erkenntnissen zu koordinieren sind, damit sowohl die normative Legitimation als auch die praktische Durchführbarkeit rechtsstaatlicher Verfahren gewahrt bleibt.
«Blutrausch» ist ein Populärbegriff, der rechtlich nicht kodifiziert ist. Gemeint ist ein psychischer Ausnahmezustand, in dem eine Person in einen intensiven affektiven Zustand verfällt, unkontrolliert gewalttätig ist und gegebenenfalls über das objektiv Notwendige hinaus Gewalt anwendet. Dieser Zustand findet dennoch in Gutachten Relevanz, beispielsweise für Art. 19 StGB – Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit, aufgrund von reduzierter Steuerungsfähigkeit wegen dieses Ausnahmezustandes oder Art. 113 StGB – Totschlag, wenn ein heftiger entschuldbarer affektiver Zustand vorliegt.
Probleme der Reliabilität und Validität juristischer Konstrukte
Die Justiz stützt sich vielfach auf historisch gewachsene soziale und psychologische Konstrukte, die zwar juristisch etabliert sind, sich jedoch nicht problemlos psychometrisch operationalisieren lassen. Beziehen Gerichte psychologische Expert*innen zur Beurteilung von beispielsweise der Facetten des Blutrausches oder der Zurechnungsfähigkeit hinzu, erweist sich die Messung solcher rechtlicher Kategorien häufig als schwierig: Viele dieser genannten Rechtsgebilde sind normativ oder erfahrungsbasiert entstanden und wurden nicht nach wissenschaftlichen Kriterien konzeptualisiert.
Daraus ergeben sich zwei grundlegende methodische Probleme: Zum einen Reliabilitätsdefizite – verschiedene Gutachter, Messzeitpunkte oder Instrumente liefern mitunter inkonsistente Befunde; zum anderen Validitätsmängel – das juristische Konstrukt korrespondiert nicht notwendigerweise mit einem empirisch fundierten psychologischen Konstrukt. Diese Mängel haben erhebliche rechtliche Konsequenzen, denn infolge solcher methodischer Unsicherheiten ist die Rechtsgleichheit vor dem Gesetz nach Art. 8 BV zwangsläufig verletzt (vgl. Haas, 2001).
Lichtblicke in der methodischen Qualität
Seit den frühen 2000er-Jahren hat sich inzwischen viel verbessert. Aus psychologischer Perspektive gibt es Tests mit enorm hoher Konstruktvalidität für Zurechnungsfähigkeit bei psychischen Störungen (z.B. Cai et al., 2014; Meyer et al., 2020; Shang et al., 2022). Für die anderen Facetten dieses Konstruktes existiert weniger ausreichende Empirie.
Auch die juristische Fachliteratur hat einige Kontributionen geleistet: Beispielsweise wurde in 2022 im sehr renommierten Journal: «Annual Review of Law and Social Science», eine Herangehensweise beschrieben, wie Informationen von Expert*innen zu bewerten sind, um bessere Qualitätsstandards gewährleisten zu können (Neal et al., 2022). Diese Herangehensweise wirkt zunächst recht schlüssig, obwohl die Autoren nicht zu wissen scheinen, dass es einen Unterschied zwischen Reliabilität und Validität gibt. Dennoch haben sie einige der einzigen wissenschaftlichen Artikel über diese Themen publiziert, was vermutlich auch Teile der Situation der fraglichen Konstruktvalidität erklärt.

Fallbeispiel: Autounfall Andelfingen
Um diverse Konzepte etwas greifbarer zu machen, wird ein konkreter Fall des Schweizer Bezirksgerichtes von Andelfingen ZH herbeigezogen. Am 04. November 2017 fuhr A. um fünf Uhr morgens übermüdet und alkoholisiert nach dem Ausgang nach Hause. Mit im Wagen befanden sich seine Begleiterin und auf der Rückbank sein Freund. Beim Überholen eines vorausfahrenden Sattelschleppers über eine Raststätte kam es zu einer Kollision mit einem Fahrzeug auf der Gegenfahrbahn. Dies führte zum Tod des Freundes und zu einem Polytrauma der Begleiterin, der Fahrer A. blieb unverletzt (Bezirksgericht Andelfingen, 2021).
Dieser Fall erfordert die Klärung einiger juristischer Konstrukte, wie beispielsweise der Feststellung des Eventualvorsatzes. Der Eventualvorsatz ist erfüllt, wenn der Person das Risiko der Tat vollständig bewusst ist und die Person dieses Risiko willentlich in Kauf nimmt (Roxin, 2020). Das würde im Fall Andelfingen zum Urteil der Eventual-vorsätzlichen Tötung führen, anstatt zu der milderen fahrlässigen Tötung, bei welcher der Täter sich des Risikos zwar auch bewusst wäre, aber darauf hoffen würde, dass schon nichts passiere.
Wenn die Risikobewertung und die Billigungsbereitschaft auf zwei Achsen abgetragen werden, so wird ein linearer Zusammenhang angenommen, der implizit ein rationales Homo Oeconomicus Modell unterstellt. Psychologische Forschung zeigt aber, dass dieser lineare Zusammenhang eigentlich eine um den Referenzpunkt S-förmige Kurve ist, die noch dazu asymmetrisch für Verluste steiler ist (z.B. Kahneman & Tversky, 1979). Die verminderte Zurechnungsfähigkeit durch Alkoholisierung wurde nicht bejaht, da diese erst ab 2 Promillen gegeben ist, während A. nur 1,14 Promille im Blut hatte (vgl. BGE 122 IV 49). Dieser harte Cut-Off ist bestimmt sinnvoll und einfach administrierbar, aus psychologischer Sicht wäre vermutlich aber, wie häufig in der Wissenschaftspraxis, ein dimensionaler Ansatz, welcher auch der Individualität gerecht wird, angebrachter. Nachdem so ein Cut-Off nicht erfüllt wurde, gilt Alkohol gar nicht mehr als mindernder Faktor, sondern nur noch ein (Bestrafungs-) verstärkender. Es wurden weder die Übermüdung, die Interaktion der Übermüdung und der Alkoholisierung, der erhöhten zeitlichen Diskontierung unter Alkohol, die Individualität von Risikofunktionen, Impulsivität oder sonst irgendwelche klaren Einflussgrössen miteinbezogen. In Anbetracht dieser Zusammenhänge, kommt man mit psychologischem Hintergrund schnell auf den Gedanken, dass hier eine adäquate Einschätzung dieser zwei Konstrukte aufgrund der Komplexität der Variablen und deren Wirkungen nicht möglich ist. Die Justiz neigt als Lösung für dieses Problem dazu, die Begründung von Willen sowie Risiko (interessanterweise die gleiche Argumentation für beide Achsen) in einem Zirkelschluss auf das Recht selbst zu beziehen: Der Fahrer hat einen Führerschein und kennt die Strassenregeln, also muss er auch das Risko kennen und bei Verletzung der Regeln auch bewusst den Willen dazu gehabt haben. Diese Argumentationslinie ist verwaltungsökonomisch effizient, führt aber nicht zwangsläufig zu einer psychologisch validen Bewertung des inneren Tatbestands.
«The pestilential breath of Fiction poisons the sense of every [Law-] instrument it comes near.»
Die Verbindung von Recht und Psychologie erfordert interdisziplinäre Sorgfalt. Die Disziplinen haben andere Anforderungen an Konstrukte – die Jurisprudenz schätzt Zweckmässigkeit, Rechtssicherheit und Verfahrensökonomie, von denen vor allem die Verfahrensökonomie nicht immer mit psychologischen Konstrukten, die vor allem objektiv, reliabel und valide sein müssen, vereinbar ist. Ein Ziel sollte also die komplementäre Integration des wissenschaftlich-empirischen und des rein normativem juristischen Modelles sein. Bis dahin müssen juristische Kategorien systematisch auf Reliabilität und Validität geprüft werden und valide empirische Instrumente in das Verfahren einarbeiten. Nur so lässt sich das in Art. 8 BV verankerte Gleichheitsprinzip langfristig schützen.