Was für einen Einfluss haben die vier Entwicklungsphasen sowie unsere frühkindlichen Erfahrungen auf die Prozesse unserer Selbstfindung? Und wie beeinflussen sie schlussendlich unsere individuelle Zukunftsplanung?
D ie Suche nach dem «Selbst» ist eng verbunden mit der Zukunftsplanung. Viele externe Faktoren sowie die familiäre Situation, Finanzen, Freiheit etc. spielen dabei eine Rolle. Im Jugendalter sowie jungen Erwachsenenalter sind Selbstfindungsprozesse besonders relevant (Kail, 2015). Dies kann schnell überwältigend sein. Der Gedanke, potenziell eine Entscheidung zu treffen, welche später bereut wird oder einen nicht glücklich macht, kann belastend sein. Somit kann es zu einem Freeze-State kommen (van der Kolk, 2014), in welchem nach Kail (2015) die betroffene Person lieber wartet, auf was passiert, statt selbst eine Entscheidung zu treffen. Doch inwiefern kommen frühkindliche Erfahrungen mit ins Spiel? Und welche Rolle spielen diese Faktoren bei der Suche nach der eigenen Identität? Haben wir Menschen wirklich Autonomie in unserer Zukunftsplanung, so wie es uns z. B. oft in den sozialen Medien gezeigt wird, oder ist unsere Zukunft schon vorprogrammiert?
«Adolescence is characterized by numerous social, hormonal and physical changes, as well as a marked increase in risk-taking behavior. Dual system models attribute adolescent risk-taking to tensions between developing capacities for cognitive control and motivational strivings, which may peak at this time.»
Die Suche nach der eigenen Identität
Nach Marcia (1980) gibt es in dem Prozess der Selbstfindung vier kategorisierte Phasen: diffuse Identität, übernommene Identität, Moratorium und erarbeitete Identität.
Individuen, welche sich in der «Diffusionsphase» befinden, sind oft überfordert von der Potenzialität, eine wichtige Entscheidung zu treffen, welche ihre zukünftige Identität beeinflussen könnte – vor allem die Möglichkeit, dass diese negativ wird. Somit kann es ihnen leichter fallen, ihrer Angst nachzugeben und gar keine Entscheidung zu treffen.
Der Selbstfindungsprozess der übernommenen Identität wird dadurch definiert, dass die betroffenen Personen sich von erfahreneren Personen um sie herum lieber «vorschreiben» lassen, was sie zu tun haben, anstatt ihre Zukunft in ihre eigene Hand zu nehmen.

Im Moratorium hingegen befinden sich Personen, welche aktiv verschiedene alternative Ideen für ihre Zukunft ausprobieren. Wichtig bei dieser Phase ist die aktive Suche nach der eigenen Identität, welche jedoch in Betracht auf soziale Kategorisierung noch komplett offen ist. Ein Endziel ist noch nicht in Stein gemeisselt, es kann auch hier mehrere Versionen geben.
Der Status erarbeitete Identität wird von den meisten Menschen wohl als erstrebenswert angesehen. Hierbei handelt es sich um Individuen, welche die Phase des Moratoriums erfolgreich abgeschlossen und sich für einen finalen Weg entschieden haben.
Es ist wichtig anzumerken, dass diese Phasen nicht nach einer bestimmten Reihenfolge passieren. Wie bei vielen Prozessen in der Psychologie, insbesondere der Entwicklungspsychologie, gibt es keine klaren Grenzen zwischen diesen vier Kategorien. Aus einer sozialpsychologischen Sicht entspricht es der menschlichen Natur, sich einer «Kategorie» oder «Gruppe» anschliessen zu wollen. Nach Tajfel et al. (1971) verspüren wir alle den Drang, Anschluss zu finden. In welcher dieser «Kategorien» wir uns schlussendlich als zugehörig finden, beeinflusst wiederum die Sicht auf unser Selbstbild.
Die beiden letzten Phasen – Moratorium und erarbeitete Identität – sind am weitesten verbreitet in der Adoleszenz. Doch vereinzelt gibt es auch Individuen, welche sich in der Diffusions- oder übernommenen Identitäts-Phase befinden. Die Selbstfindung ist ein äusserst komplexer Prozess, welcher von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist. Kindliche Erfahrungen und die Umwelt, in welcher man gross wurde, spielen hierbei eine essenzielle Rolle.
Begriffserklärung
Generalisierte Angststörung (GAS): Psychische Störung, die durch anhaltende und übermässige Angst und Sorge über verschiedene Aspekte des täglichen Lebens gekennzeichnet ist (WHO, 2019).
Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS): Entsteht typischerweise durch schwere, anhaltende oder wiederholte Traumatisierungen (WHO, 2019).
Sympathisches Nervensystem: Reguliert den Körper und das Gehirn auf physiologische sowie kognitive Aufforderungen ein. Kann in das zentrale- und periphere Nervensystem unterteilt werden (Bear et al., 2006).
Welchen Einfluss haben frühe Erfahrungen auf das Formen des «Selbst»?
Moderne Hirnforschung ergab, dass sich bei traumatischen Erlebnissen das Gehirn plastisch verändert (Conners et al., 2006). Der Hippocampus, welcher für die Regulierung von Angst und die episodische Erinnerung zuständig ist, schrumpft. Bei einigen Versuchspersonen wurde weiter erkennbar, dass die Amygdala aktiver ist als bei Versuchspersonen der Kontrollgruppe. Die Amygdala ist der Teil des Gehirns, welcher für die Regulierung von Emotionen, aber auch Angst zuständig ist. So schreibt van der Kolk (2014), dass Versuchspersonen, welche Traumatisches erlebt haben, aus rein physiologischer Sicht schlechtere Möglichkeiten haben, ihre Emotionen zu regulieren, Erinnerungen hervorzurufen und angstauslösende Situationen richtig einzuschätzen.
Personen mit belastenden Kindheitserfahrungen können also Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation und Situationsbeurteilung haben, was potenziell ihre Entscheidungsfindung beeinflusst.
Bei langanhaltenden Traumatisierungen kann es zu einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (KPTBS) kommen. Hierbei können betroffenen Personen häufig oder leicht in einen Fight-or-Flight-Modus geraten, wobei ein Bestandteil dieses der Freeze-State ist (van der Kolk, 2014). In diesem fühlt sich die betroffene Person psychisch oder physisch immobil, also sozusagen gefangen in einer Situation. Nach Jensen et al. (1995) verändern sich hierbei auch die Informationen des sympathischen Nervensystems. Laut van der Kolk (2014) führen anhaltende Stresssituationen zu schwerwiegenden Folgen der kognitiven Entwicklung eines Individuums. Es wird deutlich, dass je nach Erfahrungen eine Person anders auf gegebene Situationen reagiert. Aus der Emotionsforschung heraus wird deutlich, dass es verschiedene Wege gibt für einen Menschen, mit diesen Reaktionen umzugehen. Eine Variante ist laut Gross (1998) durch das Prozessmodell der Emotionsregulation: Hierbei kann die Situation entweder nach Evaluation unterdrückt oder neu bewertet werden. Doch bei Menschen, welche durch ihre Erfahrungen physiologische Veränderungen der Gehirnverbindungen erlitten haben (auch Neuroplastizität genannt), ist genau diese Evaluation nicht mehr so einfach.
Es muss sich aber nicht unbedingt um eine KPTBS handeln, auch andere psychische Störungen wie eine generalisierte Angststörung (GAS) können zu Schwierigkeiten bei der Situationsbeurteilung und einer passenden Reaktion führen.
Wir fassen also zusammen: Frühkindliche Erfahrungen haben sehr grossen Einfluss auf unsere weitere Entwicklung. Aber auch Auswirkungen darauf, wann und wie lange wir uns in welcher Entwicklungsphase befinden.

Die Rolle der Angst bei unserer Selbstfindung
Im obigen Abschnitt lag der Fokus sehr stark auf der Entstehung und den Auswirkungen von psychischen Krankheiten, welche Folge frühkindlicher Erfahrungen sein können. Doch was hat dies nun mit der Selbstfindung zu tun?
Laut van der Kolk (2014) können Personen mit einer KPTBS zum Beispiel oft entweder impulsiver reagieren oder mit dem kompletten Gegenteil, indem sie so grosse Angst verspüren, eine Fehlentscheidung zu treffen, was sie lähmt und schlussendlich dazu führt, dass keine getroffen wird. Sie lassen sich somit lieber von anderen sagen, was sie zu tun haben oder warten auf das, was die Zukunft bringt – Verhaltensweisen, die den Phasen der übernommenen oder diffusen Identität ähneln.
Doch im Grossen und Ganzen bleibt auch hier noch die Frage: Treffen wir unsere Entscheidungen wirklich aus freiem Willen oder sind wir, je nach unseren individuellen Erfahrungen prädisponiert, eine bestimmte zu treffen?
Zusammenfassend können wir also sagen, dass die vier verschiedenen Entwicklungsphasen (diffuse Identität, übernommene Identität, Moratorium und erarbeitete Identität) die Entscheidungsfindung sowie die Leichtigkeit dieser beeinflussen. Das Zusammenspiel mit Erfahrungen – u. a. frühkindliche traumatische Erlebnisse, welche zu z. B. einer KPTBS führen können – beeinflussen auch das Erleben der jeweiligen Phasen. Wie eine Person ihre Zukunft plant, ob sie Angst davor hat, eine Entscheidung zu treffen oder nicht, hängt somit von vielen verschiedenen Faktoren ab.