Magazin für Psychologie

Mitmachen
Alltag

Normal ist normal – anders ist normal

Peer pressure und need for uniqueness
Bilder: Isabelle Bartholomä

Verschiedene Personen scheinen unterschiedlich darauf bedacht, Normen zu entsprechen. Manche streben danach, möglichst in der Gruppe unterzugehen, während andere um jeden Preis anders sein wollen. Was hat es mit Gruppendruck und dem Bedürfnis nach Einzigartigkeit auf sich?

W enigstens farbige Socken zur grauen Schuluniform anziehen – womöglich die einzige Möglichkeit einer Schülerin, Individualität auszudrücken. Umgekehrt bemüht sich eine Schülerin an einer Schule ohne Kleidungsvorschriften vielleicht darum, ein T-Shirt in der Farbe zu finden, welche bei ihren Mitschülerinnen gerade populär ist. Das Bedürfnis nach Einzigartigkeit dürfte den meisten ähnlich vertraut sein wie das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Für Letzteres geben wir unter Umständen auch unsere Unabhängigkeit auf.

Gruppenkonformität und -druck

Einer Gruppe von sieben Männern werden mehrere Linien präsentiert. Nacheinander geben sie an, welche der Linien A, B oder C in der Länge mit einer gegebenen Vergleichslinie übereinstimmt. «A» sagt der erste Mann. «A», sagt auch der zweite. Der siebte Mann sieht sich nervös um. Als er an der Reihe ist, vermutet er zögerlich «B?». Die nächste Abbildung mit Linien wird gezeigt und erneut stimmen die Aussagen der ersten sechs Männer nicht mit jener des letzten überein. In der nächsten Runde wirkt der siebte nach wie vor verwirrt, nennt aber denselben Buchstaben wie die Personen vor ihm.

Die beschriebene Situation könnte sich so im Rahmen des klassischen sozialpsychologischen Experiments von Solomon Asch (1951) zugetragen haben. Was der siebte Mann nicht weiss: Die anderen sechs sind Eingeweihte, die sich an die Instruktionen der Versuchsleitung halten. So beantworten sie die Fragen absichtlich und einstimmig falsch. Beobachtet wird das Verhalten des Subjekts, also des siebten Mannes. Antwortet er gemäss dem, was seine Wahrnehmung ihm vermittelt? Oder passt er seine Antwort der Mehrheit an?

Mittels vieler Wiederholungen und Variationen dieses Versuchsaufbaus konnte Asch (1951) verschiedene Schlüsse zum Mehrheitseinfluss ziehen. Generell passen die Versuchspersonen ihre Antwort der Mehrheitsmeinung an, wenn sie diese laut äussern müssen, statt sie aufzuschreiben. Andererseits zeigte sich, dass dieser Effekt bei Weitem nicht vollumfänglich wirkt. 68 Prozent der Antworten waren trotz abweichender Mehrheitsantwort richtig. Ausserdem konnten grosse interindividuelle Unterschiede festgestellt werden. So gab es Versuchspersonen, die ausnahmslos unabhängige Antworten gaben (zirka ein Viertel) und solche, die sich bei fast allen Antworten der Mehrheit anpassten (zirka ein Drittel beantwortete mindestens die Hälfte der Antworten gruppenkonform) (Asch, 1951).

Asch (1951/55) interessierte sich weiter dafür, welche Charakteristika der Gruppe für den Effekt ausschlaggebend sind. Einer der Faktoren, der eine Rolle spielt, ist die Grösse der Gruppe, welche die Mehrheit darstellt. Ab einer widersprechenden Mehrheit von drei Personen lässt sich eine deutlich höhere Fehlerquote bei der Versuchsperson beobachten (Asch, 1955). Besteht die Gruppe aus mehr Personen, lässt sich jedoch kein weiterer Anstieg beobachten. Ein weiterer Faktor, der sich auf den Mehrheitseffekt auswirkt, ist die Einstimmigkeit der Mehrheit. Die Anwesenheit eines Partners, welcher ebenfalls die richtige Antwort gibt, reduziert die Fehlerrate deutlich (Asch, 1955).

Das Experiment von Asch (1951/55) inspirierte weitere Forschung mit ähnlichen Paradigmen. Bond und Smith (1996) fassten 68 Artikel in einer Meta-Analyse zusammen, in welcher sich insgesamt eine grosse Effektstärke finden liess (d = .92, 95% CI [.89, .96]). Die Konformität wuchs mit der Grösse der Mehrheitsgruppe, dem Anteil weiblicher Versuchsteilnehmerinnen, und wenn die Mehrheit aus Eigengruppenmitgliedern bestand (im Vergleich zu Fremdgruppenmitgliedern). Je grösser hingegen der Unterschied zwischen der Mehrheitsantwort und der richtigen Antwort war, desto weniger Konformität zeigte sich (Bond & Smith, 1996).

Aktuellere Forschung

Asch’s (1951) Versuchsaufbau besticht durch seine Einfachheit. Doch wie oft befinden wir uns in unserem Alltag in einem Raum mit mehreren Fremden und schätzen die Länge von Linien ein? Dennoch ist den meisten der Begriff «Gruppendruck» – oder auf Englisch «peer pressure» – geläufig. Macleod und Jearey-Graham (2016) verstehen peer pressure als den Einfluss des sozialen Umfelds auf ein Individuum, sich gewisse Verhaltens- oder Denkweisen anzueignen. Das Konzept wurde oft als kausaler Faktor für «riskantes» Verhalten von Jugendlichen wie beispielsweise Substanzmissbrauch, Delinquenz und risikoreiche Sexualpraktiken aufgefasst. Als zugrundeliegender Mechanismus wird Scham angeführt. Jugendliche, die nicht mit den Verhaltensweisen ihrer peer group konform gehen, erleben mit höherer Wahrscheinlichkeit sozialen Ausschluss oder Spott. Um Schamgefühle zu vermeiden, zeigen die Jugendlichen entsprechendes Verhalten, welches sie andernfalls nicht gezeigt hätten (Macleod & Jearey-Graham, 2016). Beispielweise begründen und rechtfertigen junge Erwachsene in Südafrika das riskante sexuelle Verhalten von Jugendlichen mit dem Konzept des Gruppendrucks. Ein weiterer Bereich, bei dem Gruppendruck eine Rolle zu spielen scheint, ist das Rauchverhalten von Jugendlichen. Simons-Morton und Farhat (2010) fassen in ihrem Literaturreview zusammen, dass sich innerhalb von Freundesgruppen eine deutliche Homogenität in Bezug auf das Rauchen finden lässt. Unter anderem kommen hier Sozialisationseffekte zum Tragen, also der Einfluss von existierenden sozialen Beziehungen auf das Entstehen von sozialen Normen, beispielsweise durch Gruppendruck. Die Studienlage zum Einfluss der Qualität von Freundschaften ist dünn, doch es gibt Hinweise darauf, dass beste Freunde den grössten Einfluss auf jugendliches Rauchverhalten haben (Simons-Morton & Farhat, 2010).

Peer Pressure – nur schlecht?

Ist Gruppendruck also etwas Schlechtes? Rosenberg (2013) beschreibt, wie sich Gruppendruck positiv auswirken kann. Beispielsweise wird ein Jugendlicher eher Sport treiben, wenn dies in seiner Freundesgruppe üblich ist (Rosenberg, 2013).

Auch die Produktivität kann durch die Anwesenheit anderer Menschen gesteigert werden. Falk und Ichino (2006) liessen Versuchspersonen entweder allein oder mit einer weiteren Person im Raum Briefe falten und in Couverts verpacken. Dabei fanden die Autoren Hinweise darauf, dass Personen, die langsamer arbeiten, mehr durch die Anwesenheit einer schneller arbeitenden Person beeinflusst werden als Personen, die sowieso schnell arbeiten. Umgekehrt zeigte sich dieser Effekt nicht. Es scheint also, dass langsam arbeitende Personen sich dem Verhalten der schneller arbeitenden Person ein Stück weit anpassen.

Einzigartigkeit im Marketing

Eine Möglichkeit, wie sich die konkurrierenden Bedürfnisse nach Gleich- und Anderssein ausdrücken können, ist im Konsum (Song & Lee, 2013). Je nach individueller Ausprägung der beiden Bedürfnisse zeigen Konsument*innen unterschiedliche Reaktionen auf die Beliebtheit von neuen Produkten. Handelt es sich dabei um ein Produkt, welches bereits von vielen Menschen verwendet und akzeptiert wurde, spricht es Personen mit stärkerem Bedürfnis nach Anpassung und schwächerem Abgrenzungsbedürfnis eher an. Spezielle und einzigartige Produkte können das Bedürfnis nach Anderssein befriedigen, was von Marketingstrategien berücksichtigt werden kann. Beispielsweise kann die Einzigartigkeit durch Vermerke wie «Limitierte Edition» unterstrichen werden (Song & Lee, 2013).

«[Personal sense of uniqueness] assumes that a person’s uniqueness is a positive attribute, which represents a person’s feelings of having distinct features and a sense of worthiness»

Demir et al., 2019, S. 1755

Uniqueness Seeking

Zwei Drittel der Antworten in Asch’s (1951) Experiment waren trotz des Drucks durch eine falsche Mehrheitsantwort richtig. Könnte ein weiterer Faktor Leute dahingehend beeinflussen, sich von der Mehrheit abheben zu wollen? Snyder und Fromkin (1977) vermuten, dass bei manchen Versuchspersonen des Experiments das Bedürfnis nach Einzigartigkeit grösser war als jenes nach Konformität. Ihre Theorie führt das Konstrukt need for uniqueness ein und bezweckt mit der Verwendung des Wortes «Einzigartigkeit» die negativen Konnotationen von «Abnormalität» und «Abweichung» zu umschiffen. Als «Einzigartigkeit» verstehen die Autoren ein positives Streben nach Anderssein im Vergleich zu anderen. Weiter geht die Theorie davon aus, dass es dispositionale Unterschiede zwischen Menschen in Bezug auf ihre Motivation gibt, sich von anderen unterscheiden zu wollen (Snyder & Fromkin, 1977).

Mit dem Konzept des personal sense of uniqueness gehen Şimşek and Yalınçetin (2010) noch einen Schritt weiter: Personen erkennen ihre eigene, einzigartige Existenz an, anstatt sich auf Abgrenzung von anderen Personen zu fokussieren.

Einzigartigkeit und Wohlbefinden

Das Gefühl von Einzigartigkeit hängt positiv mit subjektivem Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit zusammen (Şimşek & Yalınçetin, 2010). Sich selbst treu zu sein und so zu akzeptieren, wie man ist, und nicht einfach anders wie andere zu sein, wird als Aspekt positiven menschlichen Wachstums angesehen (Koydemir et al., 2020). Individuen sind freier in ihren Entscheidungen, da sie eher im Einklang mit ihren eigenen Emotionen, Kognitionen und Überzeugungen handeln und sich nicht an anderen orientieren müssen (Koydemir et al., 2020; Şimşek & Demir, 2014). Einzigartigkeit anzustreben kann sich also durchaus positiv auf die psychische Gesundheit von Personen auswirken.

Was nun also: Anpassung oder Einzigartigkeit?

Menschen erleben und beugen sich dem Gruppendruck, streben aber gleichzeitig danach – und profitieren davon –, sich von anderen abzuheben. Brewer (1991) schlägt das model of optimal distinctiveness vor, welches soziale Identität als einen Kompromiss zwischen Anpassung und Abgrenzung auffasst. Das Bedürfnis nach Gleichartigkeit wird durch Vergleiche innerhalb der eigenen Gruppe befriedigt, während dem Bedürfnis nach Andersartigkeit im Rahmen von Vergleichen zwischen Gruppen nachgekommen wird. Insofern erlauben Gruppenidentitäten, gleichzeitig gleich und anders zu sein. Das Modell nimmt Anders- und Gleichsein auf einer kontinuierlichen Dimension mit den Extremen «Einzigartigkeit» und «Deindividuation» an. Letzteres beschreibt einen Zustand kompletten Versunkenseins im sozialen Kontext, in welchem man sich nicht mehr als Individuum, sondern als Teil der Gruppe wahrnimmt. Verwendet eine Person eine Kategorisierung für sich selbst, welche sie als Teil einer Gruppe positioniert, wird das Bedürfnis nach einer individuellen Identität grösser. Hebt die Kategorisierung die Person jedoch von anderen ab, steigt das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Identität (Brewer, 1991).

«My position is that social identity derives from a fundamental tension between human needs for validation and similarity to others and a countervailing need for uniqueness and individuation.»

Brewer, 1991, S. 477

Beide Extreme dieses Kontinuums bedrohen das Sicherheitsgefühl sowie das Selbstwertgefühl einer Person, weshalb wir uns in Situationen unwohl fühlen, die uns entweder zu einzigartig oder anderen zu ähnlich erscheinen lassen (Brewer, 1991). Stattdessen streben wir ein Gleichgewicht an, indem wir uns mit Kategorien identifizieren, welche uns zu dem Ausmass dazugehören lassen, dass die Bedürfnisse nach Gleich- und Anderssein ausgewogen sind (Brewer, 1991).

Leonardelli und Kollegen (2010) erweitern das Modell um die Bedürfnisse nach Ähnlichkeit und Einzigartigkeit auf Ebene des Individuums. Auf Ebene der Gruppe geht es darum, das Optimum an Zugehörigkeit und Abgrenzung zur erzielen, während auf Individualebene das richtige Mass an Ähnlichkeit und Einzigartigkeit angestrebt wird (Leonardelli et al., 2010).

Normal

Sowohl das Bedürfnis, sich den Normen einer Gruppe anzupassen, als auch das Bedürfnis, sich von derselben abzuheben sind «normal». Beide kommen situationsabhängig zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf und sind auch voneinander abhängig. Kurzum: Normal ist normal und anders ist normal.

Zum Weiterlesen

  • Asch, S. E. (1951). Effects of group pressure upon the modification and distortion of judgments. In H. Guetzkow (Ed.), Groups, leadership and men; research in human relations (pp. 177–190). Carnegie Press.
  • Brewer, M. B. (1991). The social self: On being the same and different at the same time. Personality and Social Psychology Bulletin, 17(5), 475–482. https://doi.org/10.1177/0146167291175001
  • Snyder, C. R., & Fromkin, H. L. (1977). Abnormality as a positive characteristic: The development and validation of a scale measuring need for uniqueness. Journal of Abnormal Psychology, 86(5), 518-527. https://doi.org/10.1037/0021-843X.86.5.518

Referenzen

  • Asch, S. E. (1951). Effects of group pressure upon the modification and distortion of judgments. In H. Guetzkow (Ed.), Groups, leadership and men; research in human relations (pp. 177–190). Carnegie Press.
  • Asch, S. E. (1955). Opinions and Social Pressure. Scientific American, 193(5), 31–35. http://www.jstor.org/stable/24943779
  • Bond, R., & Smith, P. B. (1996). Culture and conformity: a meta-analysis of studies using Asch’s (1952b, 1956) line judgment task. Psychological Bulletin, 119(1), 111-137. https://doi.org/10.1037/0033-2909.119.1.111
  • Brewer, M. B. (1991). The social self: On being the same and different at the same time. Personality and Social Psychology Bulletin, 17(5), 475–482. https://doi.org/10.1177/0146167291175001
  • Demir, M., Haynes, A., Sanchez, M., & Parada, J. C. (2019). Personal sense of uniqueness mediates the relationship between compassion for others and subjective well-being. Journal of Happiness Studies, 20, 1751-1773. https://doi.org/10.1007/s10902-018-0020-1
  • Falk, A., & Ichino, A. (2006). Clean evidence on peer effects. Journal of Labor Economics, 24(1), 39 – 57. https://doi.org/10.1086/497818
  • Koydemir, S., Şimşek, Ö. F., Kuzgun, T. B., & Schütz, A. (2020). Feeling special, feeling happy: Authenticity mediates the relationship between sense of uniqueness and happiness. Current Psychology, 39, 1589-1599. https://doi.org/10.1007/s12144-018-9865-z
  • Leonardelli, G. J., Pickett, C. L., & Brewer, M. B. (2010). Optimal distinctiveness theory: A framework for social identity, social cognition, and intergroup relations. In M. P. Zanna & J. M. Olson (Eds.), Advances in experimental social psychology, Vol. 43, pp. 63–113). Academic Press. https://doi.org/10.1016/S0065-2601(10)43002-6
  • Macleod, C. I., & Jearey-Graham, N. (2016). “Peer Pressure” and “peer normalization”: Discursive resources that justify gendered youth sexualities. Sexuality Research and Social Policy, 13, 230-240. https://doi.org/10.1007/s13178-015-0207-8
  • Rosenberg, T. (2013). Harnessing positive peer pressure to create altruism. Social Research, 80(2), 491-510. https://doi.org/10.1353/sor.2013.0019
  • Simons-Morton, B. G., & Farhat, T. (2010). Recent findings on peer group influences on adolescent smoking. The Journal of Primary Prevention, 31, 191-208. https://doi.org/10.1007/s10935-010-0220-x
  • Şimşek Ö. F., & Demir, M. (2014) A cross-cultural investigation into the relationships among parental support for basic psychological needs, sense of uniqueness, and happiness. The Journal of Psychology: Interdisciplinary and Applied, 148(4), 387-411. http://dx.doi.org/10.1080/00223980.2013.805115
  • Şimşek, Ö. F., & Yalınçetin, B. (2010). I feel unique, therefore I am: The development and preliminary validation of the personal sense of uniqueness (PSU) scale. Personality and Individual Differences, 49(6), 576-581. https://doi.org/10.1016/j.paid.2010.05.006
  • Snyder, C. R., & Fromkin, H. L. (1977). Abnormality as a positive characteristic: The development and validation of a scale measuring need for uniqueness. Journal of Abnormal Psychology, 86(5), 518-527. https://doi.org/10.1037/0021-843X.86.5.518
  • Song, D., & Lee, J. (2013). Balancing “We” and “I”: Self-construal and an alternative approach to seeking uniqueness. Journal of Consumer Behavior, 12(6), 506-516. https://doi.org/10.1002/cb.1455