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«Mal schauen, ob ich abstimmen werde …»

Wie Sozial- und Emotionspsychologie die politikwissenschaftliche Forschung über Wahlbeteiligung informieren
Bilder: Rebekka Stähli

In Demokratien nutzen viele ihr Mitbestimmungsrecht nicht. Politikwissenschaftler*innen untersuchen seit langem die Faktoren schwankender Wahlbeteiligung, wobei sie zunehmend sozial- und emotionspsychologische Forschungsergebnisse zu sozialen Normen, Intentionsimplementierung oder Emotionen berücksichtigen.

A us einer behavioral-rationalen Perspektive ist die Beteiligung einer einzelnen Person an Abstimmungen schwer erklärbar (Jankowski, 2007). Rational handelnde Personen wägen die Kosten des Abstimmens gegen den Einfluss ihrer Stimme ab. Da es bei grossen Abstimmungen sehr unwahrscheinlich ist, dass die eigene Stimme entscheidend ist, sollten rationale Personen eigentlich nicht abstimmen (Rogers et al., 2013).

Rationalität (rationality)

In der Wirtschaftspsychologie wird Rationalität als Konsistenz im Handeln verstanden, welche versucht, den Nutzen des Handelns für den Akteur zu maximieren (Glimcher, 2011).

Trotz des geringen Einflusses einer einzelnen Stimme nehmen viele Menschen den Aufwand des Abstimmens auf sich. Zur Erklärung von Wahlbeteiligung und um Einflüsse zur Steigerung derselben besser zu verstehen, schlagen Rogers et al. (2013) in ihrem Artikel Why People Vote – Voting as Dynamic Social Expression ein alternatives Verständnis des Prozesses hinter dem Wählen vor. Sie erklären:

«Instead of conceptualizing voting as a self-interested decision that is made at a single moment in time, we conceptualize voting as self-expressing social behavior that is influenced by events occurring before and after the actual moment of casting a vote.»

Rogers et al., 2013, S. 91

In einem solchen Verständnis können soziale Mechanismen, wie sozialer Druck, die Wahlbeteiligung beeinflussen. Ausserdem legen Rogers et al. (2013) den Fokus darauf, welche Faktoren die Wahlbeteiligung bereits vor dem Abstimmen beeinflussen. Solche Prozesse sind beispielsweise der self-prophecy Effekt – also der Effekt, dass Personen, welche vorhersagen sie würden abstimmen, dies auch eher tun (Costa et al., 2018). Ein anderes Beispiel sind implementation intentions – also die Formulierung von Plänen, wann, wie und wo eine Person abstimmen wird.

Im Folgenden werden ausgewählte Einflüsse auf die Wahlbeteiligung (inspiriert durch die Einteilung von Rogers et al. (2013)) anhand von Forschungsbeispielen genauer vorgestellt.

Normen

Normen sind Überzeugungen, die Einfluss auf unser Verhalten haben, ohne dies durch explizite Gesetze zu tun. Injunktive Normen beschreiben, wie man sich in einer Situation zu verhalten hat. Deskriptive, wie sich andere in einer Situation üblicherweise verhalten (Jonas et al., 2014).

Sozialer Druck erhöht die Wahlbeteiligung

Gerber et al. (2008) untersuchten in einem Feldexperiment den Einfluss sozialen Drucks auf die Wahlbeteiligung. Durch Mails an Abstimmende erinnerten sie die Teilnehmenden an ihre bürgerliche Pflicht und setzten sie verschieden starken Stufen von sozialem Druck aus. Während eine Gruppe lediglich nur eine Erinnerung erhielt, wurden andere Gruppen informiert, dass Forschende oder Mitbewohnende ihre Wahlbeteiligung beobachteten. Die letzte Gruppe erfuhr, dass auch Nachbarn und Nachbarinnen über ihre Wahlbeteiligung informiert werden. Die Autor*innen konnten zeigen, dass die Teilnahme an der Wahl signifikant stieg, besonders bei der Nachbarschaftsinformation (8 Prozent-Punkte). Auch Blais et al. (2019) untersuchten den Zusammenhang zwischen sozialem Druck durch injunktive und deskriptive soziale Normen und Wahlbeteiligung.

In einer Umfrage-Studie konnten sie aufzeigen, dass deskriptive Normen vor allem im Haushalt eine Rolle spielen. Sie fanden, dass die Wahrscheinlichkeit, abzustimmen, höher ist, wenn der Partner oder die Partnerin ebenfalls wählt. Eine ähnliche Befragungsstudie führten Coulombe et al. (2024) im Kontext von Wahlen in Österreich durch. Ihre Daten zeigten, dass Personen, die eher erwarten, bei einem möglichen Verpassen des Abstimmens Ablehnung zu erfahren, häufiger von der eigenen Beteiligung an der Wahl berichten. Dies galt jedoch nur für Personen, die kein ausgeprägtes Verständnis des Abstimmens als bürgerliche Pflicht hatten (gemessen durch Items wie «It is the duty of every citizen to participate regularly in elections.» (agree – disagree), Coulombe et al., 2024).

Self-prophecy Effekt wirkt nur mit implementation intentions

Effekte bezüglich des self-prophecy Effekts sind uneindeutig (Costa et al., 2018; Smith et al., 2003) und treten nur verlässlich auf, wenn dieser auch mit der Ausarbeitung von Plänen (implementation intentions) verbunden wird. Beispielsweise konnten Nickerson und Rogers (2010) zeigen, dass Personen, welche zuvor per Telefon aufgefordert wurden, Abstimmungspläne auszuformulieren (also Intentionen zu implementieren), signifikant öfter abstimmen. Ein weiteres Beispiel liefern zwei Experimente, in denen Costa et al. (2018) junge Collegestudierende Formulare ausfüllen liessen, durch die sie entweder nur ans Abstimmen erinnert wurden oder in denen sie zusätzlich auch noch versprechen mussten abzustimmen. Costa et al. (2018) fanden, dass Personen, die versprachen abzustimmen, signifikant öfters abstimmten als Personen, welche nur eine Erinnerung erhielten. Dieser Effekt war vor allem bei jungen Teilnehmenden ausgeprägt, welche vorher noch nie abgestimmt hatten. Die Autor*innen argumentieren, dass ein Versprechen nicht nur self-prophecy Effekte hervorruft, sondern auch Strategien beinhaltet, die helfen ein Versprechensbruch zu vermeiden. Diese Ergebnisse zeigen, dass auch das Verhalten vor einer Abstimmung und nach dem Beschluss abzustimmen mit der Wahlbeteiligung zusammenhängen.

Weitere Einflüsse auf die Wahlbeteiligung haben Emotionen. Obwohl Emotionen als zeitlich begrenzte Zustände angesehen werden, können diese auch auf das Verhalten zu einem späteren Zeitpunkt Einfluss nehmen. Huber et al. (2024) zeigen in ihrem Preprint (eine noch nicht durch andere Fachpersonen geprüfte Veröffentlichung) auf, dass Wut in der Wahlbeteiligung eine Rolle spielt. Dabei induzieren sie experimentell Wut auf einen fiktiven Bösewicht einer nicht bevorzugten politischen Partei, der sich daran freut, dass man nicht abstimmen geht. Personen, welche sich einen solchen Bösewicht vorstellen, wählen signifikant häufiger. Ausserdem berichteten die Teilnehmenden, dass ihre Wut durch Wählen am ehesten gelindert würde. Langenkamp (2021) untersuchte in einer Umfragestudie den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und der Intention abzustimmen. Sie wies nach, dass Personen, welche sich einsam fühlen, auch eine geringere Verpflichtung gegenüber demokratischen Aufgaben wie Abstimmen empfinden. Phillips und Plutzer (2023) untersuchen in einer Umfrage-Studie ebenfalls, wie verschiedene Emotionen mit der Wahlbeteiligung zusammenhängen. Beispielsweise fragten sie Personen, welche Aspekte der amerikanischen Politik sie besorgen und wie sehr sie diese Aspekte beunruhigten. Dabei konnten sie aufzeigen, dass höhere Besorgnis mit einer höheren Wahlbeteiligung zusammenhing.

Abschliessend kann gesagt werden, dass die Wahlbeteiligung von verschiedensten Faktoren abhängt. Deshalb bedarf es auch diverser Strategien, um unschlüssige Personen dazu zu motivieren, ihr Recht und ihre Pflicht zur Mitbestimmung wahrzunehmen.

Zum Weiterlesen

  • Jon, K. (2020, Oktober). Speaking of Psychology: What drives voter behavior? With Jon Krosnick, PhD [Podcast]. https://www.apa.org/news/podcasts/speaking-of-psychology/voter-behavior
  • Rogers, T., Fox, C. R., & Gerber, A. S. (2013). Rethinking Why People Vote: Voting as a Dynamic Social Expression. In E. Shafir (Ed.), The behavioral foundations of public policy. Princeton University Press.
  • Groenendyk, E. (2011). Current Emotion Research in Political Science: How Emotions Help Democracy Overcome its Collective Action Problem. Emotion Review, 3(4), 455–463. https://doi.org/10.1177/1754073911410746

Referenzen