Wie und warum hat sich die Ehrenkultur entwickelt und was zeichnet sie aus? Diese für den Süden der USA typische Kultur ist weit verbreitet und rückte in letzter Zeit vermehrt in den Fokus der Forschung, um die psychologischen und verhaltensbezogenen Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Kulturen zu vergleichen.
V erhaltensweisen, die für manche Personen normal und angemessen sind, können für andere unlogisch und schwer verständlich sein. Werte, Gewohnheiten, Überzeugungen prägen das Verhalten der Menschen, ihre Emotionen und ihre Lebensmuster (Moalosi et al., 2010). All dies wird von Generation zu Generation weitergegeben (Matsumoto, 1997) und wird als Kultur definiert.
Kulturen und Gesellschaften
Ein Teilbereich der Psychologie befasst sich genau mit diesem Thema: mit diesen Unterschieden im menschlichen Verhalten, in der Kognition und in den Traditionen auf der Welt.
Es gibt mehrere Dimensionen von Kultur, die dazu dienen, Gesellschaften zu vergleichen und die Weltansichten von Personen zu verstehen. Ein berühmtes Beispiel ist die Klassifizierung von Hofstede und Kollegen (2005), die Kriterien wie Kollektivismus versus Individualismus oder langfristige versus kurzfristige Orientierung verwendet. Eine weitere Unterscheidung wird durch das «kulturelle Syndrom» hervorgehoben – eine Konstellation gemeinsamer Werte, Verhaltensweisen und Gewohnheiten, die um ein zentrales Thema herum organisiert sind (Triandis, 1994). Die Kultur der Ehre ist ein Beispiel dafür.
Kennzeichnend für die Kultur der Ehre ist, dass der Wert einer Person erhöht oder verringert werden kann, indem sie im Wettbewerb gewinnt oder besiegt wird (Gul et al., 2021). Ehre ist in dieser Kultur ein zentrales Konzept, das als primäres Lebensziel angeführt wird (Kardam et al., 2005; in Cross et al., 2014). Reputation ist ein wichtiger Bestandteil des täglichen Lebens und spielt eine Rolle bei der Definition des Selbstbildes und der Interaktion mit der Gesellschaft (Uskul & Cross, 2020). Die Kultur der Ehre ist in den südlichen Vereinigten Staaten, im mediterranen Raum und im Nahen Osten verbreitet (Uskul et al., 2019).
Die Kultur der Ehre steht im Gegensatz zu der für Westeuropa und den Norden der Vereinigten Staaten typischen Kultur der Würde (Aslani et al., 2013). Dieses Grundprinzip betont einen angeborenen Wert, der für alle Menschen gleich ist und von anderen nicht weggenommen werden kann (Leung & Cohen, 2011). Die Würde ist unveräusserlich und wird nicht, wie die Ehre, gesellschaftlich verliehen (Leung & Cohen, 2011). Was das Verhalten einer Person innerhalb der Kultur der Würde leitet, sind ihre inneren Werte und Moralvorstellungen und nicht ihr ehrenhaftes Verhalten (Leung & Cohen, 2011). Als drittes gibt es die Gesichtskultur, die in Ostasien am weitesten verbreitet ist (Uskul & Cross, 2020). Länder mit dieser Kultur haben feste und meist kooperative Hierarchien, in denen die Menschen zusammenarbeiten müssen, um ihr Gesicht zu wahren (Gelfand et al., 2004). Die Leitprinzipien des täglichen Lebens sind Hierarchie, Bescheidenheit und Harmonie (Kim & Cohen 2010), und die Strafe für schlechtes Verhalten ist Scham, da sich der eigene Wert komplett aus der Sicht der anderen auf uns ergibt (Leung & Cohen, 2011).
«A reputation for toughness deters competitors who would enhance their own honor or claim to precedence by taking some of yours.»
Soziale Interaktionen: Payback
Die sozialen Interaktionen der Menschen werden von ihrer Kultur beeinflusst. Ehre hat sowohl positive als auch negative Auswirkungen, wie Gastfreundschaft, aber auch Bedrohungen (Uskul & Cross, 2020). Ein Schlüsselbegriff im täglichen Leben ist das payback, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Ein ehrbarer Mensch ist vertrauenswürdig und zahlt seine Schulden zurück, ebenso riskiert er keine Brüskierung, indem er einen Verrat begeht oder sich ungerecht verhält (Miller, 1993). Auf diese Weise regelt die Ehre das gute Verhalten in der Gesellschaft (Leung & Cohen, 2011). Trotzdem könnte das zu einer möglichen «Irrationalität» führen, wie ein möglicherweise tödliches Duell oder ein Abraham Lincoln, der sechs Meilen läuft, um einen Penny zurückzubringen. Beleidigungen sind in dieser Kultur als Test angesehen: Was könnte eine Person mir antun? Wenn eine Person «ehrenhaft» ist und Beleidigungen nicht verträgt, schützt ihr Ruf sie vor grösseren Problemen (IJzerman et al., 2007).
“Give your life; take honor in return”
Dies ist ein verbreitetes Sprichwort, das Suizid als einen extremen Akt der Ehre glorifizieren soll. In der Ehrenkultur kann es als ein altruistischer Akt angesehen werden, um die Belastung der Familie im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Ehrenlosigkeit zu verringern (Brown, 2016). Suizid kann auch als «ultimativer Akt der Selbstbestimmung» (Pepper, 2017, S. 345) gesehen werden, mit einer «Cowboy-Mentalität», bei der man stark und mutig sein muss (Barry-Jester, 2016).
Wie entwickelte sich die Ehrenkultur?
Im 18. Jahrhundert waren die Siedler*innen, die aus Grossbritannien in die Vereinigten Staaten kamen, meist Hirten. Rinder waren eine vulnerablere Ressource als Ackerland, da sie mobil waren und gestohlen werden konnten. Darüber hinaus war die Strafverfolgung wenig institutionalisiert, und die Bevölkerung wurde kaum kontrolliert. Diese beiden Faktoren führten dazu, dass sich der Einzelne bei der Verteidigung seines Eigentums und seiner Familie eher auf einen Ehrenkodex – aggressive Vergeltung und Härte – als auf das Strafrecht stützte (Nisbett & Cohen, 1996).
Für Menschen aus einer anderen Kultur könnte dies unlogisch oder kurzfristig nicht vorteilhaft erscheinen, z. B. das eigene Leben in einem Ehrenduell zu riskieren (Uskul & Cross, 2020). Tatsächlich entwickelt sich die Kultur so, dass sie in der spezifischen Umgebung erfolgreich ist (Nowak et al., 2016), entsprechend den verfügbaren Ressourcen, der Bevölkerungsdichte und den Bedürfnissen an diesem Ort. Im Norden der USA und in Europa waren die historischen Bedingungen anders: Es standen mehr Ressourcen zur Verfügung, und man konnte sich stärker auf den wirksamen Schutz der Gesetze verlassen, die auf dem angeborenen Wert der Würde jedes Menschen gründen (Gul et al., 2021). In diesen Regionen mit starker institutioneller Autorität hat die Reputation keine Funktion, während sie in einer Ehrenkultur zur Kontrolle von Gewalt und Aggression beitragen kann (Nowak et al., 2016). Die Logik der Ehre ist also eine langfristige Strategie, die zu kurzfristiger Irrationalität führt (Uskul & Cross, 2016).
Obwohl sich die Bevölkerung nicht mehr auf das Vieh verlässt und die Strafverfolgung ausgeprägter ist, ist die Ehre immer noch ein sehr präsenter Wert, der auch dank der traditionellen Werte von Männlichkeit und Weiblichkeit überlebt, die weitergegeben und zur sozialen Norm werden (Vandello & Cohen, 2008).
Marianismus aka der Machismo der Frauen
Marianismus bezeichnet das komplementäre Konzept des Machismo mit den Werten und Einstellungen einer ehrbaren Frau (Nuñez et al., 2016). Der Name leitet sich von der Jungfrau Maria der christlichen Religion ab, die dem Marianismus als Vorbild dient. Dieser umfasst Konzepte wie Grosszügigkeit, mütterliche Aufopferung, Aufrechterhaltung harmonischer Beziehungen, Keuschheit, Passivität und Unterwerfung. Frauen wachsen mit diesen Vorstellungen auf und erwarten, dass sie sich der Autorität ihres Mannes unterordnen und seinen Schutz und seine Versorgung geniessen.
Geschlechtsspezifische Rollenerwartungen: Der Macho
Die Reputation hängt davon ab, wie gut sich Menschen an soziale Erwartungen halten, zu denen auch geschlechtsspezifische Rollen gehören (Rodriguez Mosquera, 2016). Männer müssen stark sein, sich aggressiv gegen Bedrohungen wehren, die Familie schützen und versorgen, während Frauen Reinheit, Jungfräulichkeit und Loyalität gegenüber ihrem Ehemann wahren müssen (Gul et al., 2021). Die Familie ist von entscheidender Bedeutung, denn der Ruf wird zwischen den Mitgliedern geteilt, die sich gegenseitig schützen, um Schande über die Familie und eine Schädigung der sozialen Beziehungen zu vermeiden (Rodriguez Mosquera, 2016). Der so genannte Machismo, d.h. die Gesamtheit der Männlichkeitswerte eines ehrbaren Mannes, umfasst positive Aspekte wie Ritterlichkeit, Verantwortung und Schutz der Familie, aber auch negative Aspekte wie Dominanz, sexuelle Stärke, Kontrolle über Frauen und Geheimhaltung von Gefühlen (Gul et al., 2021).
Gewalt als Konsequenz
Neben den positiven Korrelaten ehrenbezogener Werte, wie Altruismus, positiver Gegenseitigkeit und Gastfreundschaft (Leung & Cohen, 2011; Niemann, 2004), gibt es auch negative Folgen. So erhöhen beispielsweise geschlechtsspezifische Normen und Erwartungen das Risiko von Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen (Gul et al., 2021). In Gesellschaften, in denen die Ehre im Vordergrund steht, wird das Betrügen von Frauen als schädlicher für Männer angesehen als in Gesellschaften, die auf Würde gegründet sind (Vandello et al., 2009). Ausserdem wird die Aggression gegen eine untreue Frau positiver bewertet, ebenso wie die Toleranz des Opfers gegenüber Gewalt (Vandello et al., 2009). Dies gilt jedoch nur, wenn die Konflikte mit der Treue zu tun haben, nicht aber, wenn sich das Paar über die Geldverhältnisse streitet. Aggressive Reaktionen des Mannes auf die Zurückweisung einer Frau sind auch angemessener für Menschen, die sich eher mit Ehrenwerten identifizieren (Stratmoen et al., 2018).
«Ehre ist für mich und jeden Kumpel wichtig, denn wenn du keine Ehre hast, hast du nichts […] Also tust du alles, was du kannst, um sie zu schützen. Ich meine, ohne Ehre wird dich niemand respektieren»
«Selbstständigkeit und der Anschein, zäh zu sein und angesichts von Widrigkeiten für sich selbst sorgen zu können, sind zentrale Werte in Ehrenkulturen, insbesondere für Männer.»
Mentale Gesundheit
Ein weiteres typisches Verhalten von Menschen in einer Ehrenkultur ist, dass sie bei psychischen Problemen zögern, Hilfe zu suchen (Alegria et al., 2007). Dies ist teilweise auf kulturelle Überzeugungen und Vorurteile der Machismo zurückzuführen. Aus Angst, die Familie zu entehren (Cabassa, 2007), vermeiden sie es, über emotionale Probleme, Schwächegefühle und Ängste zu berichten.
Dies ist sehr problematisch, denn der Druck, einen guten Ruf zu wahren, verursacht Stress, der zu psychischen Störungen beiträgt (Gul et al., 2021). Menschen, die den geschlechtsspezifischen Erwartungen nicht gerecht werden, erleben ein Gefühl des Wertverlusts, einen potenziellen Verlust an Respekt und Unterstützung durch andere, was zu einer schlechten psychischen Gesundheit führt (Gul et al., 2021). In der Tat berichten Staaten, in denen eine Ehrenkultur verbreitet ist, über eine höhere Rate an Depressionen und Angstzuständen als Staaten, in denen eine Kultur der Würde vorherrscht (Osterman & Brown, 2011). Die Ergebnisse bleiben auch dann signifikant, wenn Faktoren wie wirtschaftliche Benachteiligung, Temperatur und Zugang zur Gesundheitsversorgung berücksichtigt werden.
Trotz der höheren Rate diagnostizierter Depressionen in den Ehre-Staaten der USA im Vergleich zu den Würde-Staaten werden weniger Antidepressiva verschrieben (Crowder & Kemmelmeier, 2014). Suizidraten können ein Indikator für unbehandelte Depressionen sein und waren bei europäischen Amerikaner*innen in Staaten mit einer Kultur der Ehre tatsächlich höher als in Staaten mit einer Kultur der Würde (Osterman & Brown, 2011).
Prävention und Verhaltensänderung
Die gleichen kulturellen Werte, die ein Risiko für die psychische Gesundheit darstellen, könnten auch als Gegenmittel dienen, um die möglichen negativen Folgen der Ehrenkultur zu vermeiden (Gul et al., 2021). Wenn man die Kultur und ihre Werte versteht, kann man die Bevölkerung leichter erreichen und Informationen verbreiten. Zum Beispiel schlagen Bridges und Kollegen (2014) vor, dass mentale Gesundheitsdienste in die primäre Gesundheitsversorgung integriert werden sollten, sodass das Stigma, in eine spezialisierte psychische Klinik einzutreten, reduziert werden kann. Dazu könnten Depressionen und Angststörungen früher diagnostiziert und behandelt werden.
Wenn Empfehlungen zur psychosozialen Versorgung von religiösen Autoritäten oder angesehenen Mitgliedern der Gemeinschaft kommen, sind die Personen als Quellen verlässlicher und können mehr Menschen dazu veranlassen, Hilfe in Anspruch zu nehmen (Dalencour et al., 2017), eben wegen des Wertes des Respekts. Informationen zur psychischen Gesundheit können angepasst werden, indem sie sich auf wichtige Werte wie Loyalität und den Schutz der Familie konzentrieren, z. B. «Die Behandlung wird dich stärker machen» oder «Du kannst dich nicht um sie kümmern, wenn es dir schlecht geht» (Gul et al., 2021).