Magazin für Psychologie

Mitmachen
Bildung

Was ist eigentlich die Jung’sche Psychologie?

Über die Psychotherapierichtung des Zürcher Psychiaters und Psychologen Carl Gustav Jung
Bilder: Janice Lienhard

Obwohl Jung an der Universität Zürich studierte und später auch lehrte, wissen selbst viele Psychologiestudierende wenig über die Analytische Psychologie. Dieser Artikel stellt die Richtung vor, erläutert zentrale Grundbegriffe und gibt Einblicke in ihre Wirksamkeit.

I m Fokus des Psychologiestudiums und der aktuellen klinisch-psychologischen Forschung steht vor allem die Verhaltenstherapie. Auch wenn im Verlaufe des Studiums die wichtigsten Therapierichtungen thematisiert werden, geht das Wissen vieler Psychologiestudierenden nicht über die grundlegenden Begriffe und Ideen der jeweiligen Richtung hinaus. So verhält es sich auch bei der Analytischen Psychologie, die durch Jung begründet wurde. Dies mag verblüffend wirken, da Jung selbst an der Universität Zürich studierte und später auch lehrte (Fordham & Fordham, 2025).

Assoziationsexperimente

Bei einem Assoziationsexperiment werden den Versuchsteilnehmenden Wörter vorgelesen, woraufhin sie ein Wort nennen sollen, das ihnen dazu einfällt. Dabei ist die Idee dahinter, dass man Schlüsse über das Unbewusste einer Person ziehen kann. Zudem untersuchte Jung auch, ob sich die Antworten von Personen mit einer Schizophrenie von den Antworten einer gesunden Stichprobe unterscheiden lassen (Swogger & Dillon, 2024).

Am Burghölzli Klinikum, wo Jung seine fachärztliche Ausbildung zum Psychiater absolvierte, führte er viele sogenannte Assoziationsexperimente durch. Sie erlangten in Forschungskreisen grosses Aufsehen und konnten auch wichtige Theorien Freuds über das Unbewusste bestätigen. Diese Umstände führten dazu, dass die beiden einige Zeit lang zusammenarbeiteten. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten und persönlichen Konflikten zerstritten sie sich (Fordham & Fordham, 2025). Jung fokussierte sich fortan auf seine eigenen Überlegungen und begründete schliesslich die Analytische Psychologie, um sich und seine Arbeit von der Tiefenpsychologie nach Freud zu distanzieren (Roth, 2020).

Grundkonzepte der Analytischen Psychologie

Die Analytischen Psychologie hat ihre Wurzeln in der griechischen Antike und der ostasiatischen Geistesgeschichte. Gewissermassen kann sie als Schnittpunkt von Philosophie und Tiefenpsychologie verstanden werden (Vogel, 2018). Eine zentrale Rolle spielt dabei die Entelechie, welche Jung aus der griechischen Philosophie entnahm (Vogel, 2018). Entelechie beschreibt « […] die natürliche Entfaltungstendenz eines jeden Lebewesens […]. Es setzt auf die Fähigkeit zu wachsen, sich zu entwickeln [und] auf die Fähigkeit zum Überwachsen der Probleme durch eine immer differenziertere Entfaltung der besonderen Gestalt, auf die eine jede und ein jeder von uns angelegt ist» (Riedel & Henzler, 2016, S. 15). Neben diesem Prinzip, welches im Kern seiner Psychologie steht, beschreibt Jung noch weitere grundlegende Elemente. Wie bei anderen tiefenpsychologischen Richtungen betont auch die Jung’sche Psychologie die Wichtigkeit unbewusster Vorgänge (Vogel, 2018). Jung beschreibt das Unbewusste als ein Kontinuum vom persönlichen bis zum kollektiven Unbewussten (Vogel, 2018). Dabei beschreibt das persönliche Unbewusste beispielsweise Verdrängtes, Vergessenes oder beiläufig Wahrgenommenes. Das kollektive Unbewusste allerdings entsteht nicht aus eigener Erfahrung und ist angeboren. Man kann es mit der DNA vergleichen, die den Körperzellen als Bauplan dienen. So ähnlich interpretiert Jung das kollektive Unbewusste, welches als Bauplan für die Psyche dient. Das kollektive Unbewusste kann zum Beispiel ein Instinkt oder Reflex sein und ist nach Jungs Verständnis zentral für die psychische Entwicklung vom Säugling zur erwachsenen Person (Roth, 2020).

Funfact

Introversion und Extraversion sind Begriffe, die durch Jung geprägt wurden. Sie haben wohl den stärksten Einfluss in die moderne akademische Psychologie gefunden und sind noch immer ein zentraler Bestandteil der Persönlichkeitspsychologie (Vogel, 2018). Introversion beschreibt ein Verhaltensmuster von Personen, die eher zurückhaltend, bedächtig und distanziert sind, Extraversion dagegen kennzeichnet sich durch Aktivität, Geselligkeit und Abenteuerlust (Hogrefe, 2022).

Ein weiteres wichtiges Konzept in Jungs Psychologie sind die Archetypen. Diese beschreiben angeborene Muster des Erlebens und Verhaltens (Roesler, 2016). Sie können als Themenschwerpunkte des eigenen Lebens verstanden werden und stellen den Grossteil des kollektiven Unbewussten dar (Roth, 2020). Daneben beschrieb Jung die psychologischen Typen, die im Wesentlichen dem entsprechen, was heute in der Psychologie als Persönlichkeitseigenschaften bezeichnet wird – also stabile und grundlegende Funktionen der menschlichen Psyche (Vogel, 2018). Besonders in der Psychotherapie spielen die Grundfunktionen eine zentrale Rolle, da sie den Therapierenden helfen, die Beziehung zu ihrem Gegenüber zu gestalten (Vogel, 2018). Ein weiteres Schlüsselkonzept ist die Finalität: Sie beschreibt, dass menschliches Verhalten nicht nur durch vergangene Ereignisse bestimmt wird, sondern ebenso durch auf die Zukunft ausgerichtete Ziele (Vogel, 2018). Auch der Begriff der Individuation zählt zu den zentralen Konzepten in Jungs Psychologie. Er beschreibt die Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentwicklung des Menschen (Vogel, 2018).

«Manche Autorinnen und Autoren [beschreiben] die Analytische Psychologie gar als Prototyp einer Integrativen Psychotherapie […]»

Vogel, 2018, S. 22

Die Individuation ist auch ein Kernelement der Analytischen Psychotherapie. Ziel ist es, dass Patient*innen diesen Selbstentfaltungsprozess erreichen können. Dieser setzt eine Bewusstmachung, Auseinandersetzung und Integration aus dem Unbewussten voraus. Die Aufgabe der Therapierenden ist es, die Patient*innen auf diesem Weg zu begleiten und den Prozess zu fördern (Roth, 2020). Ähnlich wie andere tiefenpsychologische Richtungen versucht man in der Analytischen Therapie unbewusste Vorgänge bewusst zu machen. Dies kann über verschiedene Kanäle geschehen, zum Beispiel über Träume (Roth, 2020). Aus therapeutischer Sicht ist das Verständnis über unterbewusste Vorgänge wichtig, da ein mangelnder Zugang die Gefahr von Projektionen mit sich bringt. Damit beschrieben wird das Hinausverlagern eigener unbewusster, oft auch abgelehnter, Selbstanteile nach aussen auf andere Objekte oder Menschen (Vogel, 2018). Die Reintegration dieser verlagerten Anteile in das Selbstkonzept ist ein Ziel der Jung’schen Psychotherapie (Vogel, 2018). Zudem zeichnet sich die Analytische Psychotherapie durch grössere Flexibilität als andere tiefenpsychologische Richtungen aus. So kann beispielsweise die Sitzungsfrequenz variabler gestaltet werden und es lassen sich auch Methoden und Erkenntnisse aus anderen Therapieschulen integrieren. Einige Autor*innen bezeichnen sie sogar als Prototyp der integrativen Psychotherapie (Vogel, 2018).

Wirksamkeit der Jung’schen Psychotherapie

Bis in die späten 1990er Jahre spielte die Analytische Psychologie in der Psychotherapieforschung keine grosse Rolle und Praktizierenden wurde vorgeworfen, ihr Handeln sei überhaupt nicht wirksam (Roesler, 2013). Das noch immer bestehende Problem ist, dass es keine Studien der höchsten Evidenzstufe gibt, wobei Teilnehmende zufälligerweise in die Therapiegruppe oder Kontrollgruppe eingeteilt werden (Roesler, 2020). Allerdings gibt es bereits einige Studien, die im angewandten Umfeld durchgeführt wurden und zeigen, dass die Analytische Psychotherapie zu einer Symptomlinderung führt und diese Effekte über mehrere Jahre anhaltend sind (Roesler, 2020).

Zum Weiterlesen

  • Roth, W. (2020). C.G. Jung verstehen: Grundlagen der Analytischen Psychologie. Patmos Verlag.

Referenzen

  • Hogrefe. (2022). Extraversion. In Dorsch Lexikon der Psychologie. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/extraversion
  • Fordham, F., & Fordham, M. S. M. (2025). Carl Jung. In Britannica. https://www.britannica.com/biography/Carl-Jung
  • Riedel, I., & Henzler, C. (2016). Maltherapie: Auf Basis der analytischen Psychologie C. G. Jungs. Patmos.
  • Roesler, C. (2013). Evidence for the Effectiveness of Jungian Psychotherapy: A Review of Empirical Studies. Behavioral Sciences, 3(4), 562–575. https://doi.org/10.3390/bs3040562
  • Roesler, C. (2016). Das Archetypenkonzept C.G. Jungs: Theorie, Forschung und Anwendung. Analytische Psychologie C. G. Jungs in der Psychotherapie. Kohlhammer.  https://doi.org/10.17433/978-3-17-028417-3
  • Roesler, C. (2020). Contemporary Psychotherapy Research, Psychodynamic Psychotherapy and Jungian Analysis. Psychologia, 62(2), 94–105. https://doi.org/10.2117/psysoc.2020-b008
  • Roth, W. (2020). C.G. Jung verstehen: Grundlagen der Analytischen Psychologie. Patmos.
  • Swogger, B. J., & Dillon, J. J. (2024). Historische Grundlagen der Affektivitäts- und Lernforschung: C.G. Jungs Wortassoziationsexperimente. In P. Fossa & C. Cortés-Rivera (Hrsg.), Affektivität und Lernen: Ein Brückenschlag zwischen Neurowissenschaften, Kultur- und Kognitionspsychologie (S. 653–671). Springer Nature Switzerland. https://doi.org/10.1007/978-3-031-58979-9_30
  • Vogel, R. T. (2018). Analytische Psychologie nach C. G. Jung. Psychotherapie kompakt. Kohlhammer.